ICH KÜSSE MEIN LEBEN IN DICH (Die Martenehen)




Vorrede der Wasserfrau

"Dass ich mir die Schwester schuf, Weib eines Menschenmannes, war ein Vergehen, das nicht ungesühnt bleiben konnte. Doch die strenge Chronologie, in die ich mich fügte, um deren Söhne wachsen zu sehen, taugte nicht, um zu erzählen, wie ich die Jahrhunderte und Kontinente durchstreifte, die Ozeane der Erde mein Bassin nannte und jenen immer fand und verlor, dessen Erscheinen mir in der Tiefe verkündet worden war. So kam Heilmann ins Spiel: jener andere Sünder, hinabgestiegen ins Reich der Mütter und auferstanden von dort auch er, um einen Sohn zu zeugen, ein anderes Un-Wesen, das niemals hätte geschehen dürfen. Gelegentlich sehe ich ihn wieder, den nur scheinbar Gelassenen, nervös die Brille putzend. Denn Heilmann weiß. Diese traurigen Augen sind es, denen ich folgte. Durch die blaue Tür, grünblau schimmernd wie Meeresrauschen. Hinter der Heilmann mir zeigte, wer ich war. Oder zu sein vorgab. Wo das Wissen war, das ich fürchtete, mit gutem Grund. Es wird nicht leicht sein zu verstehen, was zwischen mir und dem Unmenschen geschieht. Heilmann, dachte ich, führt die Feder. Aber so ist es nicht..."


1. Feier der Bedeutungslosigkeit 
In einem Herbst  des neuen Jahrtausends fasste Melusine sich endlich ein Herz. Am Arm der Prinzessin aus dem Morgenland betrat sie die kleine Berliner Buchhandlung durch den Seiteneingang. Hinter einem offenen Verschlag öffnete sich von draußen uneinsehbar jene Holztür, deren blauer Lack in breiten Placken absplitterte. Die Prinzessin und Melusine gelangten auf diesem Weg direkt in die winzige Küche, die Heilmann im Hinterzimmer des Ladens eingerichtet hatte: zwei Kochplatten und eine Kaffeemaschine auf einem wackligen Campingtisch. Heilmann lehnte im Durchgang zur Buchhandlung, den Kopf lauschend zur Seite geneigt, als warte er darauf, dass die Türglocke den Eintritt einer Kundin ankündigte. Er war nicht allein. Am Tisch saß Almuth, die sich mit Fleiß alle Farbigkeit aus Kleidung, Wangen und Haar geschrieben hatte. Sie trank Rotwein  aus einem Zahnputzbechern, auf dem „3x täglich“ geschrieben war. Falls Heilmann durch eine Bewegung der Weinflasche in seiner Hand ein Signal des Erkennens von sich gab, war es so dezent gesetzt, dass die Melusine sich nicht sicher sein konnte.

Ich suchte seinen Blick. Er schaute an mir vorbei. Ich spürte, wie sich die Prinzessin an meinem Arm verkrampfte. Rasch schob ich ihr einen leeren Stuhl unter den Hintern. „Setz dich doch.“ Das stoppte sie nur kurz. „In eine redselige Runde sind wir geraten.“, stieß sie hervor. Heilmann setzte die Weinflasche an den Mund.  Mir wurde klar, dass ich die Prinzessin hätte warnen müssen. Sie klopfte mit dem Absatz auf den Boden: "Ist da jemand?" Noch immer konnte ich Heilmanns Blick nicht finden. Almuth starrte mich an. Ihre Miene drückte Missbilligung, beinahe Hass aus. In jenem Moment gab ich ihr Recht. Wir hatten hier nichts zu suchen. Die Prinzessin aber gab nicht auf: "Könnt ihr nicht reden? Seid ihr stumm?" Almuth fragte: "Wollen Sie was trinken?". "Ja, gerne", antwortete die Prinzessin, als seien wir beim Kaffeeklatsch. Heilmann löste sich von der Wand und machte sich an der Kaffeemaschine neben den Kochplatten zu schaffen. Almuth knallte ihren Pott hörbar auf den Tisch. "Scheiße", murmelte Heilmann. Er hatte das Kaffeepulver neben den Filter gegossen und eine Riesensauerei veranstaltet. Mit der Hand wischte er ein wenig vom Pulver auf den Boden. Er sah Almuth hilfesuchend an, doch die ignorierte ihn. "Kein Problem", sagte ich, "wir nehmen auch gern ein Glas Wasser." "Ist Kaffee aus?", fragte die Prinzessin, die noch nichts von dem Malheur mitbekommen hatte. "Ja, ja", beruhigte ich sie, schüttete ihr ein Glas ein und drückte es ihr in die Hand. "Melusine", rief sie, "sind wir in ein Kulturkrematorium geraten?" Almuth verdrehte angeekelt die Augen. "Azar, bitte", flüsterte ich verzweifelt. "Darf man hier nur flüstern?", fragte die Prinzessin unverschämt. "Schreien Sie ruhig ein bisschen rum.", höhnte Almuth. Heilmann hatte sich neben mich gestellt und berührte mich am Ellenbogen. Die Prinzessin nahm Almuths Antwort zum Anlass einen persischen Liebessang anzustimmen: melancholisch, schwer, schwülstig. Almuth sagte laut: "Bei soviel erotischer Verlorenheit muss ich kotzen." Davon ließ sich die Prinzessin aber nicht irritieren. Heilmann zog mich zwischen die Philosophie-Regale. "Was hast du dir dabei gedacht?", zischte er. "Du hast mir sehr geholfen.", antwortete ich. "Ich wollte dir danken, bevor..." "Undine geht..." "Melusine, Heilmann, diesmal ist es eine Melusine." Heilmann nahm die Brille ab. "Sie geht..." "Der Schwanz ist ab, Heilmann. Ich muss jetzt auf den Füßen laufen." "Es wird weh tun an den Sohlen." "Es war ein Irrtum." "Eine Illusion; das ist was anderes." "Stimmt. Das habe ich gelernt. Unter anderem." "Warum hast du sie mitgebracht?" "Die Prinzessin aus dem Morgenland? Weil eine Melusine ohne Fischschwanz eine andere Frau braucht." "Du glaubst, an ihrem Arm könntest du zur Vordertür hinaus gehen." "Und die bliebe im Fenster zurück. Ja." Für einen Moment glaubte ich in Heilmanns Augen die Trauer zu sehen, derentwegen ich im Februar durch die blaue Tür gegangen war. "Das Kind..." "...kann dich von der Last nicht befreien, Heilmann. Es wird bezahlen müssen. Und du." "Unsere Kinder: Sie leben...aber nicht uns fort, Heilmann. Vater sein heißt, überlebt werden. Und damit einverstanden sein." Er nickte. "Ich weiß." „Lebwohl.“ Almuth klapperte inzwischen immer lauter wütend mit dem Geschirr gegen den Gesang der Prinzessin an. "Schaff sie weg.", sagte Heilmann. "Sonst geschieht hier noch ein Unglück." Ich nahm die Prinzessin am Arm, die ohne Unterlass weiter sang, stieß Heilmann beiseite, der ein Regal mit sich riss und schritt im Lärm der polternden philosophischen Werke, der dröhnenden Beats und des persischen Flehens, die Prinzessin am Arm, durch die Vordertür aus dem Laden.

Als Melusine und die Prinzessin sich umdrehten, sahen sie hinter dem spiegelnden Schaufensterglas den schimmernden Körper einer Meerjungfrau liegen. Sie wussten genau, dass sie nicht dort gelegen hatte, als sie vor 40 Minuten aus dem Taxi vor Heilmanns Buchhandlung gestiegen waren. Schon brannten ihre Füße.


2. Heilmanns Irrtum 
Almuth war in einem heißen Sommer einige Jahre zuvor in Heilmanns Leben getreten. Mit Almuth, dachte er zunächst, hatte er das große Los gezogen. Denn Almuth gab sich schlagfertig und wortwitzig, wo immer sie auftauchte. Da aber lag auch das Problem. Heilmann bemerkte es leider zu spät. Almuth musste immer das letzte Wort behalten. Ihr letztes Wort war nicht selten gewandt. Jedoch wusste es kaum einer mehr zu goutieren, da Almut  bis es fiel, alle zum Verstummen getrieben hatte. Denn ihr Witz erschöpfte sich und andere darin, gehässig niederzumachen, was sie selbst nicht aufzubauen verstand. Leidenschaftlicher Hass entzündete sich bei ihr, wenn sie ein Gelingen wahrnahm. Dabei ging es ihr nicht plump um Karriere, Gewinn, Sieg. So wenig subtil war sie nicht. Sie ahnte und witterte das Gelingen auch dort, wo es nicht triumphierte: darin dass andere einander verstanden oder sich doch erfolgreich die Illusion des Verstehens wechselseitig zu verschaffen wussten. Aber auch wenn es einem gelang seiner Befangenheit, seiner Angst, seinen Qualen Ausdruck zu verleihen oder sich umgekehrt in seine Lust zu steigern, ausufernd sich zu verschwenden, wurde Almuths Missgunst bis zum Äußersten gesteigert. Sie, allerdings, rechtfertigte ihr boshaft-selbstzerstörerisches Dreinschlagen damit, dass sie die Wahrheit enthülle, das Profan-Hässliche unter der Schminke der Poesie freilege. Almuth, soviel muss gesagt sein, war schön. Sie hatte es, dachte man, dachte auch sie, nicht nötig sich zu schminken. Jedoch nötigte ihre Unfähigkeit, lebendig zu sein oder auch nur das Lebendige zu dulden, sie, immer eine Maske und ein enges Korsett zu tragen. Gerade das hatte zu Beginn auf Heilmann sexy gewirkt. Doch war dies Empfinden längst dem Grauen gewichen, das ihr steter Kampf gegen das Leben in ihm inzwischen auslöste.  Andererseits hatte nur eine wie sie zur Mutter von Heilmanns verbotenem Sohn werden können. Sie kamen voneinander nie wieder los, das wusste er, seit der Knabe in seinen Windeln nach ihm geschrieen hatte.


3. Nachricht aus Moskau
Im dem Frühling, kurz vor Almuths Erscheinen, hatte Melusine eine Nachricht aus Moskau erhalten, kryptisch, die weiterzuleiten sei an Heilmann, wie ihr bedeutet wurde. Ihr Verhältnis zu Heilmann zu bestimmen, war ihr zu dieser Zeit ganz unmöglich. Sie waren einander, nachdem er ihr den Weg durch die blaue Tür gewiesen hatte, auf seltsame Weise nahe gekommen. Sie ahnte, dass sie einander zu lange schon kannten. Was sie erlebt hatte hinter der blauen Tür, zog sie unwiderstehlich an. Zugleich erhob sich gegen das Wissen, das gelegentlich in Heilmanns traurig verschatteten Augen auffunkelte, wenn er die Brille abnahm und sie durchdringend kurzsichtig fixierte, heftigste Abwehr. Woher wir kommen, ich darf es nicht sehen. Melusine zu sein, offenbar, hing daran, an Heilmanns Tür zu glauben, also die Realität zu leugnen und sich. Es mussten, begriff sie da, Vorkehrungen getroffen werden, wie später wieder hinauszukommen sei aus Heilmanns Laden. Denn Melusine, das darf man nicht vergessen, trug zu jener Zeit den Fischschwanz. (Darum auch hatte Heilmann sich bei der  ersten Begegnung im Laden, die hier nicht erzählt wurde, so tief zu ihr hinab beugen müssen.)

Heilmann reagierte auf die erste Moskauer Nachricht gar nicht. Sie ließ es auf sich beruhen. Doch rumorte der Städtename in ihr. Auch Moskau liegt am Meer. Wer hatte das gesagt? Schließlich las sie Heilmanns Verdikt gegen den sozialistischen Realismus: „Der Kampf um unsere Kunst muss gleichzeitig ein Kampf um die Überwindung des Hangs zur Kleinbürgerlichkeit sein.“ Hatte er das nicht in den zwanziger Jahren schon in Berlin behauptet? Sie erinnerte sich mit plötzlicher Sicherheit daran. Dann traf die nächste Nachricht aus Moskau ein, weiterzuleiten erneut, wie es hieß, an Heilmann. Ein Bild diesmal nur, Wolkenformationen. Almuth. Vielleicht.


4. Moskau ist auch keine Methode
Im Herbst kamen wieder neue Nachrichten aus Moskau. Drohend braute sich das Schweigen der Erinnerungen zusammen. Sie waren in Moskau gewesen. Heilmann und die Wasserfrau. Jahrhunderte zuvor, ahnte sie plötzlich. Damals rief er sie "Natascha", wenn sie sich im Schnee wälzte. Die Namen vergingen, die Liebe nicht. Der Geliebte allerdings starb wie alle anderen auch. Wir wollen, beschworen sie einander, Heilmann und die schöne Drachin, nicht mehr daran denken, wie Moskau brannte. Daran hielten sie sich lang. 


Ich hatte von Anbeginn jenen Anderen geliebt, dessen Erscheinen Unruhe und Furcht auslöste, unter den Wassern. Im kalten Winter fror die Große Armee, weißt du das noch? Als sie zurückschlich durchs verschneite Europa, überfielen die halbverhungerten Burschen wildgewordene Freischärler an der Oder. Eine Leiche am Ufer des Flusses mit durchlöcherten Socken. Ich werde den großen Zeh, der bläulich ins Morgenlicht ragte, sehen, solange ich denke. Dort am Ufer fühlte ich seinen Blick auf mich gerichtet und wie im Märchen duftete uns jenes vergessene Glück entgegen, an das wir nicht mehr gedacht hatten, namentlich jetzt nicht.

Wieder ein anderer aber schrieb ihr neunzehnhundertachtzig dann von Moskau aus: Solange ich denke, schrieb der, solange ich denke also, bin ich nicht, nein, bin ich nicht absolut vernichtet. Was aber heißt: ich denke? Der Lehrer Klaus hatte in jenen Jahren voll Inbrunst geschrieen: „Ihr denkt doch nur, dass ihr denkt“. Das leuchtete ein. Den verehrte ich tief, bis ich eines Tages auf seine Hände sah. Es war, als habe er gelesen: Nüchternheit ist Lebensnorm. Da traute ich ihm nicht mehr. Denn richtiger war: Bin nicht Logik, sondern fehlerhafte Suche. Die Füße schmerzten. Moskau schimmerte golden in der Ferne. Am Meer. Letztlich geht es doch immer nur um die Frage: Ist Revolution auch gütig denkbar? Das wurde verneint, dachte ich, während der Zug in den Bahnhof einfuhr. Ein Versuch, ein Experiment, die Hoffnung, dass aus dem Bunker das Schmerzgeschrei sich befreit und zum revolutionären Gruß wird, Brüder und Schwestern! Die Nacht auf dem harten Bette verlief ganz gut. Ausweichmanöver führten auf Abstellgleise. Bern. Brüssel. Paris. Spree Athen. Ich fuhr. Überall rührte sich die Humanität nur verpelzt. 

Wir müssen lernen, die Winter nackt zu überstehen, sagte Almuth und hakte sich auf dem Kuhdamm bei Heilmann unter. Er war gerührt und bestand darauf, dass er ein Kind von ihr haben wolle. Das war nicht bedeutungslos. Aber: Nichtdinge beschäftigen den, den das Problem der Bezeichnung der Dinge beschäftigt, sein Problem ist Nichtproblem. Kein Kind also, sagte Almuth Doch sie irrte sich. Im Hotel Lux war dreißig Jahre zuvor Gaslicht über die Flure geschimmert. "Wie konnte es dich nach Moskau verschlagen", hatte Heilmann gefragt, die Lippen zusammen gezogen wie ein verhungernder Kater. Er freute sich nicht, Melusine hier zu sehen. „Auch Moskau liegt am Meer.“, hatte sie geantwortet. „Wusstest du das nicht?" Heilmann hatte die Achseln gezuckt.  „Nun ja, die Kanäle...“ Sie war in diesem smaragdfarbenen Fetzen um ihn herum geschwebt und hatte gerufen: „Die Phantasie lebt, so lange der Mensch lebt, der sich zur Wehr setzt.“ Heilmann hatte ihr den Mund zuhalten müssen. Jeder verrät hier jeden. „Ich muss“, klagte er, „zweiundvierzig Fragen beantworten. Kein Fischschwanz wird mich durch den Wolga-Don-Kanal tragen, Melusine.“ „Was rät die Partei?“, fragte sie, da hätte er sie gerne geschlagen.

Von Moskau sprach ich deshalb nicht, als ich Heilmann nach einem halben Jahrhundert in der Buchhandlung Berlin/Mitte wieder traf. Später bereute ich das. Was wäre geschehen, wenn wir zusammen ans Fenster getreten wären, hinaus ins Schneegestöber zu schauen? Durch Heilmanns blaue Tür gegen die Zeitkontrolle hätte in den Berliner Oktober der Moskauer Schnee des Jahres neunzehnhundertsechsundzwanzig fallen können. Doch Heilmann, wusste ich, sonnte sich lieber im Süden. Im Januar siebenundzwanzig aber herrschte herrlich warmes Wetter in Moskau. Vielleicht hätte ich Heilmann erzählt, was Melusine dort noch gesagt hatte: „Ich bin ja ganz passiv.“ Er hätte darauf antworten können, er sei sich sicher, dass der gegen ihn erhobene Vorwurf ein Unsinn wäre. So hätten, dachte ich, wir an den See hinaus fahren können, zusammen. Alles sei möglich, hatte Heilmann gesagt. „Ach ja“, höhnte sie. So lag der See da, tief in sich versunken, sanft und erschöpft. Moskau, wusste sie mit plötzlicher Gewissheit, ist auch keine Methode.


(Es geht jetzt alles vollkommen durcheinander.)



5. Um Haaresbreite
Melusine lernte zu verstehen, dass Heilmann und sie hinter der blauen Tür immer schon beieinander waren. Sie fanden sich ein, um draußen, jenseits der Tür, auf den Boulevards von Paris, in Moskauer Hotels, an Londons Themse, vielleicht auch, doch Melusine wehrte sich lange dagegen, in den Katakomben Roms, zufällig einen Arm zu streifen, einen Blick aufzufangen. Es wäre leicht zu behaupten, dass sie sich stets erkannten. So war es nicht. Es offenbarte sich oft ganz unerwartet: die Handbewegung, mit der Heilmann seine Brille rückte, die hilflose Art, in der Melusine über den Bürgersteig tappte, wie Heilmann die Lippen spitzte, Melusines Lispeln, wenn sie trotzig wurde.  

Was sie ahnten, kann ich nicht sagen. Ich wusste es plötzlich. Der Schmerz in den Beinen meldete untrüglich: Er ist es. Manchmal stehe ich an der Reling eines Schiffes. Die Wogen schlagen hoch gegen den Rumpf.  Ich ersehne die Berührung des Schaums auf den Wellenkronen und strecke eine Hand aus, die von hinten Heilmann ergreift. Er trägt einen weißen Anzug und einen bezaubernden Strohhut. Seine Nase blutet. Mein helles Kleid wird beschmutzt. So ist es ausgemacht. Immer taten wir einander weh: Eine merkwürdige Art jemanden zu Tode zu quälen: nicht Zoll für Zoll, sondern um den Bruchteil einer Haaresbreite... Jahre später betrat ich einen Konzertsaal, als Heilmann in der Eingangstür auf Almuth wartete. Mein Rocksaum streifte seine Hand. Mehr geschah nicht. Beim Nachhausekommen fand ich irgendein Buch angefangen aufgeschlagen im Regal liegengelassen, also hatte er hier in meinem Zimmer gesessen, meine Wohnung benutzt, mitunter aufgesehen zu den nassbeschlagenen Fensterausschnitten....

Dieses Mal war es anders. Beide hatten sie das Gesetz gebrochen. Melusine hatte sich die Schwester erschaffen, die Mutter der menschlichen Knaben. Oder war es umgekehrt? Der Lauf der  Martenehen ist von alters her festgelegt. Jemand muss den Preis zahlen: das einsame Fauchen des Drachenweibes in der Nacht. Doch sie wollte bleiben, diesmal, hatte sie beschlossen. Der Plan schien aufzugehen: die Melusine im See versenken. Natürlich ist das alles gelogen. Der See war da, lang bevor sie kam. Und Launen hat er, und man muss ihn studieren wie eine Frau. Dies kann er leiden und jenes nicht, und mitunter liegt das, was ihm schmeichelt und das, was ihn ärgert, keine Haaresbreite auseinander. Ich stand am Ufer im August, als Heilmann das Kind zeugte, und hörte den Gesang. Alles schien zu passen. Dennoch zögerte Melusine. Der märkische Sand dämpfte die Schritte. Wohin? Würde sie da gewinnen die Ruhe und Klarköpfigkeit, die mir abhanden gekommen waren in Berlin, da war ich also abgefahren mit nichts weiter als einem Wunsch, ich bereitete mich vor auf Enttäuschung. Schluss mit dem Geheule der Undinen, der verstockten Fischschwänzigkeit in den Tümpeln.Heilmann merkte es gleich, dass etwas aus der Ordnung war, als er Ende Februar auftauchte. So weit war es mit ihr gekommen, dieser kindhaften Frau, dass sich die innre Sprache der Poesie nicht mehr vereinen ließ mit den äußeren Lebensformen, dass die Forderung nach absoluter Freiheit der Kunst zerbrechen musste an der Unerfüllbarkeit, die das Dasein diktierte.

Heilmann beugte sich über den Ladentisch, als ich die Buchhandlung betrat. Falsch, so kann es nicht gewesen sein. Ich hatte  ja vorgesorgt. Azar schob mich hinein. Das ging geradeso mit dem Rollstuhl durch Heilmanns Vordertür. Der Fischschwanz war sorgfältig unter der karierten Decke verborgen. Heilmann sah kaum  auf. Meine Hände zitterten. Ich bat Azar, mich in eine der hinteren Ecken des Ladens zu fahren. Die Prinzessin wollte sich weigern. „Da sieht er dich doch nicht. Willst du nicht mit ihm reden?“ Ich antwortete nicht, aber ich wusste: Er würde kommen. Er konnte nicht anders, obwohl unsere Blicke sich nicht trafen. Es dauerte eine Weile. Auch das hatte ich erwartet. Es gab im Grunde kaum etwas zu sagen. „Gefällt es Ihnen?“, fragte er und deutete auf das Buch in ihrem Schoß. „Ich habe es gelesen.“, antwortete sie. „Tatsächlich?“ „Ja, das gibt es wirklich.“ Er musste lachen. Dann schwiegen sie. Er lehnte sich an ein Regal. Eine Kundin betrat den Laden. Heilmann zuckte. Die Frau war schön. Heilmann war immer schon schönen Frauen verfallen. Darin lag kein Verbrechen. Doch diesmal war er zu weit gegangen. Wie ich als meine Schwester bleiben wollte, so wollte Heilmann zeugen. Doch wer weiß, muss den Preis bezahlen. Verräter werden verraten. „Nein. Familie wollte er nie und war doch an die Familie gebunden.“, sprach die Prinzessin weise. Sie hatte gut reden. Der Trauer können wir nicht entgehen. In deinen Augen habe ich mich erkannt. Das müssen wir niederschlagen. Schau mich nicht an. Geh mir aus den Augen.

Sie drehte an den Rädern und bewegte den Stuhl zum Ausgang. Heilmann hielt sie auf. „Ich muss Ihnen etwas zeigen.“, sagte er. Die blaue Tür. Je mehr sie weiß, desto mehr wird sie leiden. Die Prinzessin war verschwunden. Melusine sah sie erst später wieder vor Heilmanns Laden. Wie sie hinaus gekommen war, wusste sie nicht zu sagen, jedenfalls nicht durch den Vordereingang. Sie schlug die Decke zurück. Ihre Füße steckten in hochhackigen schwarzen Stiefeln. „Lass uns ein wenig die Oranienburger Straße hinunter laufen“, bat sie die Prinzessin und reichte ihr den Arm.


6. Heilmanns Sohn oder der Bruch des Zölibats
Sie sehnte sich nach den weißen Nächten. Sobald der Schnee fiel, überzeugte sie sich gegen alle Wahrscheinlichkeit, es könne doch einmal gelingen. An einer bestimmten Straßenecke, erinnerte sie, hatte der Andere sie vor Jahren festgehalten. Als sie ihm das erzählte: „Hier hast du mich immer geküsst.“, tat er, als habe er es vergessen. Vielleicht war alles nur Einbildung. Die Zunge des Vaters meiner Söhne in meinem Mund hat es nie gegeben. „Ein jeder von ihnen trägt ein Mal“, behauptete Heilmann. Da schlug sie ihm ins Gesicht. „Nicht meine Söhne.“ Er zuckte kaum. „Du wirst sie verlieren, wie alle anderen auch.“ „Diesmal nicht“, schrie sie.

Heilmann bat sie nach Rom zu kommen. Wieder. „Ich war noch niemals in Rom.“ „Du weißt auch warum.“  Die Unterwelt von London aber hatte sie erkundet. Sie schwamm durch die Themse und nahm sogar die Schleusen. „London wird untergehen, auch die Barrier kann es nicht retten.“ „Das hast du gesehen?“ „Ich war dabei.“ „Doch mich jagst du nach Rom.“ Sie wusste, dass Heilmann Recht hatte. Es gab keinen anderen Rückweg. Doch fürchtete sie sich davor, ihn so hohl und nackt zu sehen. Sie wollte die Illusion erhalten, auf der die Liebe wie auf einem Sockel bleibt. In Wahrheit lag Rom längst schon in Trümmern. Die Barbaren hatten gesiegt. Titten und Ärsche auf allen Kanälen. „Eben drum“, sagte Heilmann. „Drecksack.“

Er wusste doch, dass er zu weit gegangen war. Das ihm auferlegte Zölibat zu brechen, dafür würde  er büßen. Wie sie für den Verrat. „Nur in Rom verstehen sie, wie es gemeint ist.“ Melusine bevorzugte Paris. Die Ankünfte am Gare de L´Est, Streifzüge durchs Marais, ihre Nacktheit im Staub unter den Betten schäbiger Hotels.„Das Zölibat“, dozierte er, „war im Ursprung nicht als sexuelle Enthaltsamkeit gedacht. Es ging nur um eins: Nicht zeugen.“ Du sollst nicht eindringen. Über diesen Unfug musste sie lachen. Seine Augen hatten ihn verraten. Er kannte die Wahrheit über die ewige Gewalt der Mütter. Heilmann bestritt das. Er sei, wiederholte er gerne, immer schon hinter den schönen Frauen her gewesen. Da warf sie den Kopf zurück, lachte. „Dazu bist du gemacht, zweifellos.“ Aber ernst tippte sie mit dem Finger auf das Foto des Knaben, das er in seiner Brusttasche trug. „Keine darfst du so lieben, dass du ihr ein Kind in den Bauch pflanzt.“

Heilmann verfiel. Er begann zu trinken. Von der, von Almuth, die er verfluchte, kam er nie wieder los. So zerstörte er auch sie. Heilmann schuf das Blaue vom Himmel herunter.  „Mein Kind.“ Eine Träne fiel in seinen Bierkrug. „Ich kann dir nicht helfen.“ Sie griff nach seiner Hand. „Ich hätte das niemals erwähnen dürfen: die Schnitte in die Füße“. „Der Puppe.“ Er glaubte, das alberne Voodoospiel könne ihn retten. Und seinen Sohn. Für diesen Irrtum wird er bezahlen. „Verzeih mir.“


7. Verworfene Betrüger
Dunkelheit war heraufgezogen und hatte Heilmann umschlossen. Er, der das Meer liebte, die Heiterkeit  und die Sonne, war gefangen im regnerischen Häusergrau der binnenländischen Städte. „Wo mein Sohn lebt,“, beharrte er, „bin ich zu Hause.“ Doch ertränkte er die Unbewohnbarkeit seiner modernen Heimstätte im alkoholschwangeren Nebel schäbiger Vorstadtkneipen. Melusine rückte auf den Schemel neben ihm. „Bestell mir einen Whisky“, sagte sie. Heilmann blickte auf. Seine Augen waren verschwommen, Melusine konnte nicht sicher sein, dass er sie erkannt hatte. Doch was machte es schon. Wie oft hatten sie einander verfehlt? Und wie oft noch würden sie achtlos aneinander vorübergehen? Heilmann winkte dem Mann hinterm Tresen. „Ham wer nich´. Bier und Korn. Wem´s nich passt, der kann ja jehn.“ Heilmann kicherte: „Bier oder Korn? Was willst du,  kleine Meerjungfrau?“ Melusine seufzte. „Ein Pils.“ Heilmann nickte dem Barmann zu: „Du hast es gehört.“ Der verzog sich hinter die Zapfhähne. „Immerhin“, nickte Melusine, „es wird gezapft.“ „Gib dich nicht so volkstümlich.“ Plötzlich wurde Heilmann aggressiv. Melusine schwieg. Es umgab ihn Mordlust. Sie konnte es riechen. „Feuer und Wasser“, Heilmann fuhr mit dem Zeigefinger am Rand seines Glases entlang. „Sind wir.“ „Ich bin beides, Heilmann: Drachin und Fischschwänzige.“ Zum ersten Mal an diesem Abend schaute Heilmann ihr in die Augen. Sie zuckte zusammen und schlug die ihren nieder. Dass grüne Augen solche Blitze senden können? Und blaue. Ich habe wahrhaftig blaue Augen, dachte sie. Das ist neu. Als käme ich für diesmal aus dem Norden. Glaube mir, dass ich dich habe, diese Stunde habe, das ist mein Glück. Was daraus wird, das kümmert mich nicht. Eines Tages bis du weggeflogen...

War es das? Heilmann brauchte das Mittelmeer. War ich dort nicht auch einmal zu Hause? Ach, lang ist´s her. Ein anderer Verräter, den ich liebte.„Ich habe niemanden verraten.“ Heilmann las meine Gedanken nicht, er dachte sie. „Nur dein Gelübde.“ Heilmann ballte die Faust. „Und sie.“ Heilmann schlug die geballte Hand auf das Holz, das es krachte. „Sie war es, die sich von einem andern begatten ließ.“ „Wie viele Lippen teiltest du, in wie viele Münder stecktest du deine Zunge?“ Heilmann senkte den Kopf. Es war wahr. Dennoch hatte er nicht gelogen. Niemals hatte er die Mutter seines Kindes verraten, auch wenn er die Körper anderer Frauen begehrte und genoss. Sie hingegen, Almuth, verriet ihn mit jedem Blick, mit jedem Wort, mit jeder Geste, lange bevor sie sich einem anderen hingab. Sie tat, was sie tat, um ihn leiden zu lassen. „Ach, Heilmann, du begreifst immer noch nicht, was du ihr angetan hast.  Deshalb dachte ich...hoffte ich einmal, du seist ein Mensch.“ Ich schrie auf. Heilmanns Faust hatte sich geöffnet und gleich einer Pranke hatte er die Hand in meinen Schenkel geschlagen. Mit aller Kraft drückte er zu. Ich hielt den Atem an. „Wenn ich dir weh tun könnte, wäre ich einer?“ Tränen stiegen mir in die Augen. „Nicht wenn du es könntest, sondern wenn du es tätest.“. Ich  atmete tief aus. „Ich spüre nichts.“ Heilmanns Hand ließ los. Dennoch ruhte sie weiter sacht auf meinem rechtem Oberschenkel. Wie ein toter Vogel dachte ich. Abgestürzt. Ich schloß die Augen und starrte geradewegs in die schmerzverzerrt aufgerissenen der gefolterten Puppe. Blau wie meine.

„Er schlang  ihr fliegendes Haar um die Faust;
Er hieb sie mit knotigen Riemen.
Er hieb, das es schallte so schrecklich und laut!
Er hieb ihr die samtige Lilienhaut
Voll schwellender blutiger Striemen.“

„Ich werde es tun.“ „Du weißt, wem du dazu die Hand reichen musst?“ „Gegen das Böse bin ich immun.“ „Du redest, als seiest du ein Mann. Ich werde dich verdammen dafür.“ Heilmanns Hand strich über ihr Bein. „Ich kann einer sein, wenn du es willst. Wärest du eine Frau...“ Sie nahm seine Hand und legte sie entschlossen zurück auf den Tisch. „Wäre ich eine Frau, hielte ich mir einen Impresario.  Aber dieses Amt übernimmt wieder kein Mann, der auf sich hält. Wir beide können nicht zeugen. Aber einander Zeugen sein. Und müssen es.“ „Der freie Wille...Hast nicht du ihn immer verteidigt, Melusine?“ Sie lachte. Bitter. „Weil ich muss.  Heilmann. Das ist das Paradox. Ob ich nun frei bin?...Will ich´s denn? Ich will es n  i c h t.“ Er schwieg. Sie sah jetzt, was  geschehen war. Sie sah es nicht voraus, denn es war bereits vorbei. Sie erschrak, doch es blieb gültig. Bevor ich nach Rom gehe, wusste sie, wird er uns längst in der Hafenstadt im Norden an den Teufel verraten. „Es gibt keinen Teufel, Melusine.“

8. Empire Melusine
In jenen vergangenen Tagen des Viktorianischen Zeitalters nannte der Andere sich auf einmal Willoughby. Seine Schönheit wirkte betörend wie je, als die Herren noch Fräcke trugen und Krawatten wie Schleifen gebunden wurden. Absichtsvoll mied sie bei Tisch den Blick, den er ihr zuwarf wie einen Fehdehandschuh. Fass mich nicht an, schien sie zu sagen und setzte sich ans andere Ende der Tafel. So fern wie möglich wollte sie ihm sein. Es gab gewiss Besseres als Ärger und Mutlosigkeit, sagte sie sich. Nichts jedoch half ihr dazu, den Kopf zu heben und in seine Augen zu sehen. Sie konnte nicht ahnen, dass es sein Sohn war. Almuth war nicht mal geboren.

Es kann keinen zweiten geben wie ihn, beschloss sie schon mit fünfzehn Jahren, wiewohl sie im selben Augenblick begriff, dass sie damit ihr Urteil für alle Zeiten sprach. Obwohl er nicht frei von tadelnswerten Eigenschaften war, musste sie sich gestehen, dass sie ihn nicht verabscheute. Sie wünschte diese Erkenntnis zu hintergehen und scheiterte mit ihrem Widerstand. Hoffnungslos nahm sie seine Anträge an, schwor ihm ewige Treue vor dem Altar und ließ sich nach Hause fahren. Immer wieder warf sie sich seinen Doppelgängern an den Hals, verbog sich unter ihren Händen, ließ sich schwängern von denen. Die Kinder verschwanden in schattigen Häusern; sie vergaß ihre Namen, meistens

Auch seiner erinnerte sie sich nur schwach in ihren letzten Tagen. Im Jahre 2030 wurde die Wasserfrau in Calais im Feuer bestattet. Ihre Asche zerstreuten sie im Kanal. Das war sieben Tage bevor die Flut die Barrier von London brach. Heilmanns Bemühungen waren vergebens gewesen. Wieder einmal war er zu spät gekommen. Er hatte den Seeweg gewählt, aus symbolischen Gründen. Ein Flug hätte sie retten können, ahnte er. Warum ließ er die Drachin nicht gelten und bestand immer auf dem Fischschwanz? An der Reling stehend zog er den Strohhut und verbeugte sich vor den Wellen. Da tippte sie ihn leicht auf die Schulter. Heilmann fuhr herum. 



9. Die Erfindung der Liebe
Er sah hinunter auf die Wellen, von denen sie sich an Land spülen lassen würde wie eine leblose Puppe. Heilmann beugte sich über die Reling. „Wir nähern uns dem Hafen.“ „Dem Tod, Heilmann, auch.“ „Immer so melodramatisch. Als hätte ich nicht soeben deine Asche verstreut.“ „Ich weiß von nichts.“ Er lachte. So war es. Sie folgte sich selber nach, immer wieder. Und er traf sie wie der Pfeil das Herz. Längst war sein Sohn ergraut. Scharf wehte der Wind und schneidend kalt. Auch sein Gebein fühlte sich alt. Der Stoff des Mantels über seinen Schultern war abgewetzt, dünn geworden durch die Gezeiten. Sie strich ihm über den Hinterkopf. „Dass du keine Perücke mehr trägst.“ Zart lehnte sie den Kopf gegen seine Schulter. „Er ist so schön gewesen.“ Seine Hände krampften um das Eisen, als sie sprang. „Du wusstest doch, dass du ihn überleben musst.“, rief sie ihm über die Schulter zu. Wie gerne hätte er sie da noch einmal versenkt. Doch sie schwamm oben auf, in ihrem Element. Ganz flach wurden die Wellen, so herzlos drückte der Himmel auf sie.

Seine Augen hinter den trüben Brillengläsern wurden feucht. Heilmann konnte sich nicht länger an Deck halten. Er schloss sich in seiner Koje ein, ergab sich dem Malt, immerhin mit Stil. Er lachte. Bitter. Wäre sie nach Rom gekommen... Er versuchte sich zu erinnern. Hatte er sie dort gesehen, Generationen zuvor? Schamlos sich vergebend unter dem lachsfarbenen Himmel in den Jahrtausende alten Gassen?  Er zog sein Schnupftuch hervor. Oder war er später mit Almuth dort gewesen? Fast glaubte er daran. „Die erstvermählte Frau eines treu liebenden Gatten.“ Frauen, war damals gelehrt worden, sollten nicht lesen und schreiben, man tat sehr unrecht, sie andere Dinge lernen zu lasen, als für eine Odaliske oder für eine Haussklavin geeignet sind. Aber dann (oder irgendwann danach?) hatte Almuth gesagt: „Vielleicht ist keine von uns frei von Gefühlen, die sie zu unterdrücken wünscht oder nur indirekt auszudrücken wagt.“ Und er war mit seiner ganzen Gier über sie hergefallen und hatte gezeugt.

Wer, wer nur hätte damals in jenen römischen Julitagen, dreißig Jahre vor dieser Zeit, in der prächtigen Gestalt jenes unbeschreiblich elende Skelett auf der nordseeischen Promenade zu erkennen vermocht? Heilmann weinte jetzt hemmungslos. Es frisst sich der Schmerz durch die Eingeweide meines Sohnes. Das ist nicht meine Schuld. Doch wessen dann? Welches Mädchen wäre ihm nicht in Sinn und Sinnlichkeit verfallen?Herrlich schön, charmant, klug und raffiniert war er geworden, Heilmanns Sohn: Willoughby.  (Gab ihm Almuth den verräterischen Namen?) „Er war ein Tunichtgut. Ich kam ihm gerade recht.“ War sie, fragte sich Heilmann, durch die Luke in die Koje geschwommen? Doch perlte kein Tropfen Wasser auf Melusines Haut. Er streckte die Hand nach ihren Locken aus. Trocken, wie ihre Füße. „Wo ist dein Schwanz?“ Sie seufzte. „Du weißt, dass ich keine Macht darüber habe.“ „Wirst du erstarren, wenn wir im Hafen anlegen?“ „Bist du  wieder betrunken, Heilmann? Du weißt, dass du zu weit gehen wirst, wenn du die Puppe folterst.“ 

Dann weinte auch sie. Heilmann legte seine Zunge an ihre Wange und fing die Tränen auf. „Süß.“ „Du lügst. Sie brennen.“ Sie roch seinen alkoholisierten Atem, als er ihr Ohr an seine Lippen zog. „Ich werde dir wehtun, bis dein Blut sich erhitzt.“ „Das ist unmöglich, Heilmann.“ „Hast du ihn nie geliebt?“ „Ich habe nur ihn geliebt. Und all die andern.“ Heilmann schlug ihr die Faust in den Bauch. Sie schrie nicht, krümmte sich nur zusammen und ließ sich vor dem Bett fallen. Er glitt neben sie. „Halt mich.“ „Das kann ich nicht. Das konnte ich nie.“

Am Morgen legte der Dampfer im Hafen an. Heilmann kleidete sich sorgfältig: Hose, Weste, Jackett, Seidenschal. Zwischen seinen Augenbrauen pulsierte es. Er fühlte sich voller Energie. Mein Sohn wird leben, wenn sie blutet, sagte er sich. Ein Katalog von Übertretungen hat ihn nicht zu retten vermocht, doch meinem Bund mit dem Teufel wird es gelingen. Er hörte sie kichern. „Es gibt keinen Teufel, Melusine. Hast du das nicht gesagt, Heilmann, immer wieder?“ Keine Zeit jetzt, dachte er, ihr Manieren beizubringen. Sie wird es zu spüren kriegen, wenn es soweit ist. Er verschloss die Kabine doppelt.



10. Die Fabrik der Engel
Unter ihr wogte die See. Sie presste die blanken Brüste gegen den Holzboden des Schiffes, bis er nachgab. Der Lack splitterte und ritzte unter dem linken Brusthof fadenfein die Haut auf. Ein winziger Tropfen Blut fiel auf die weißgestrichene Latte. „Für dich gegeben“, flüsterte sie. Es war der ovale Tropfen das Ei, aus dem die Vergebung für Heilmann schlüpfen sollte, der sich nicht zu schade gewesen war, wie ein Durchschnittsmensch seine Herrlichkeit fortpflanzen zu wollen. 

An Land rann Heilmann unterdessen der Schweiß in den Nacken, obgleich der Tag kühl war. Seine Heiterkeit war schon verflogen, als er das Taxi bestieg. „Der Teufel bittet zum Tanz“, dachte er. In seiner Brieftasche fingerte er nervös nach dem Bild seines Jungen. Er soll nicht ausgemergelt am Kai stehen, ein Schatten seiner selbst, das habe ich geschworen. „Wollen Sie wirklich hier raus?“, hatte der Taxifahrer gefragt, als Heilmann ihn bat, am Eingangstor der stillgelegten Fabrik zu halten. In wie vielen Filmen hatte er diese Szene gesehen? Unsere Geschichte strotzt vor Klischees. Heilmann reichte ihm stumm den Schein. Der Mann zuckte die Achseln. Nervös strich Heilmann seine Hosenbeine glatt als er vor dem hohen vergitterten Tor stand und wartete. Mit einem lauten Kreischen fuhr es vor ihm zur Seite. Er trat ein und hinter ihm schloss sich sofort wieder das Gitter. Doch er fürchtete nichts. Der Teufel brauchte ihn, sonst wäre er niemals bis hierher gelangt.

„Kein Schiff hat eine schönere Galionsfigur unterm dem Bugspriet als wir“, riefen die Matrosen. Sie lächelte unaufhörlich mit ihrem tiefroten Mund, zwischen den Lippen blitzten die Schneidezähne. Ihr Leib war jetzt das Schiff und sie nahm die ganze Mannschaft auf, gierig nach ihrem Gesang, ihren Gelagen und ihren rohen Handgriffen, willig sich ihren Befehlen zu fügen und die Meere auf ihr Geheiß zu durchpflügen. „Doch aufgepasst, meine Herren. Was unter meinem Busen wogt, kann euch alle verschlingen. Seemannsbraut ist das Meer und sie gibt ihn nie wieder her.“ Diesen Gesang verschluckte der Wind, ebenso wie ihr unablässig beschwörendes Gemurmel zum Rauschen der Wellen wurde: „Du sollst Dir und mir treu sein, da ein Geist sich mit uns eingeschifft, verlass die Flagge nicht, der Eid, den du geschworen, gilt.

Irgendwo klapperte ein Fensterladen, eine Papiertüte fegte über den Vorplatz hinter dem ehemaligen Pförtnerhäuschen, wo Heilmann stand. Der Wind vom Meer her schmeckte salzig auf seiner Zunge. Immer schlägt die wilde Welle an mein Herz, der innere Feind. Er suchte nach der Kamera, die ihn erfasst haben musste, damit das Tor geöffnet wurde, doch konnte er sie nicht ausfindig machen, obgleich es taghell war. Plötzlich, als er sich umwand, stand wie aus dem Nichts der Herr vor ihm, der ihn bestellt hatte. „Sie sind gekommen. Ich war mir nicht sicher.“ „Habe ich eine Wahl?“ „Es gehört Mut dazu.“ „Mein Sohn.“ Angewidert verzog sein Gastgeber das Gesicht. Seine Stimme war weich, fast weiblich, seine Hände sorgfältig manikürt. „Wie ein Sonntagsprediger: An nichts Kommendes können wir glauben, wenn wir Vergangenes nicht zu würdigen wissen.“ Seine Verachtung schien grenzenlos, doch er fing sich. Als er Heilmann seine Rechte reichte, hatte dieser das Gefühl, einen trockenen Schwamm zu ergreifen, so wenig waren die Knochen zu spüren.  „Ihre Niederträchtigkeiten sind mir viel lieber als ihre sentimentalen Anwandlungen.“ „Ohne diese jedoch wäre ich nicht hier.“, konnte Heilmann sich nicht verkneifen zu antworten. Sein Widersacher wirkte für einen Moment überrascht, doch dann nickte er. „Sie haben Recht. Selbstverständlich.“ Der Herr war korpulent und hatte sich zur Feier des Tages in eine purpurne Kutte gekleidet, die von einem güldenen Gürtel tailliert war (nicht dass man beim dem Herrn tatsächlich von einer Taille hätte sprechen können). Heilmann hatte ihn auch schon dezenter auftreten sehen. Damals in Rom, ausgerechnet, hatte er in einer schwarzen Jeans und einem grauen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Los Angeles“  neben Heilmann am Tresen gesessen. Er war nicht ohne Humor, der Herr der Finsternis, dachte Heilmann. „Die Engel warten.“, sprach der römische Dickwanst, als hätte er den Gedanken gehört. In diesem Augenblick wurde Heilmann klar, dass der Konjunktiv überflüssig war. Er versuchte, sich zu entspannen. Mit einer Handbewegung wies ihm der Teufel, der sich großzügig gab, den Weg zum Hintereingang einer Fabrikhalle. Heilmanns Hand zitterte, als er den Türknauf drehte. „Beruhigen Sie sich. Am Anfang sollen Sie nur zuschauen.“ „Am Anfang“, dachte Heilmann. Sie traten ein.


(Ich bin nie verzweifelter gewesen als zu jener Stunde.)


11. Keine Hilfe

Der beleibte Mann griff nach Heilmanns Arm, um ihn durch die ehemalige Fabrikhalle zu lotsen. Die einzelnen Abteilungen waren durch Plastikplanen, die wallend wie riesige, glänzende Vorhänge von den Decken fielen, voneinander getrennt. Die Planen schillerten in allen Regenbogenfarben, manche waren blickdicht, andere ließen schemenhaft wie Scherenschnitte erkennen, was sich hinter ihnen abspielte, wieder andere waren vollkommen transparent und färbten das Puppentheater in verschiedenen Farben ein. Heilmann wurde in ein von weißbeschichteten Planen gebildetes blickdichtes Viereck gezogen.


„Sie wissen, dass auch die Celluloid-Exemplare ärztlichen Beistand benötigen, mehr sogar als die aus Porzellan oder Gummi?“ Heilmann zuckte die Achseln. Was für ein unsäglicher Quatsch, dachte er, wie habe ich mich nur auf so einen Scharlatan einlassen können? „Wir müssen heute anders agieren als zu Zeiten der Hexenverbrennung, das verstehen Sie doch sicher am besten?“ Weil ich auch damals schon dabei war – und es hinnahm?  Aber ich hatte keinen Sohn. Ich hatte kein Kind. „Darauf haben wir gewartet. Jahrhunderte lang. Ganz geduldig. Es war so gewiss wie der Sonnenaufgang am Morgen. Wer die Frauen so liebt...“ Aber sie, wie passte sie darein, die Fischschwänzige, die es gewagt hatte, Menschenkinder zu gebären? Warum ließ er die gewähren? „Sie büßt an ihren Füßen, glauben Sie mir, Heilmann. Immer schon.“

Die Matrosen hatten Melusine an Deck gezerrt. Die Tür, die Heilmann so sorgsam zweimal verschlossen hatte, war mit einer Axt aufgebrochen worden. „Ein blinder Passagier“, schrie der Erste Offizier. Sie hatten sie an den Füßen unterm Bett vorgezerrt, wo sie sich noch hatte verbergen wollen, als sie schon ahnte, dass keine Hilfe mehr war. Beim Fesseln ließen sie sich Zeit, nutzten die Gelegenheit, mit ihren schwieligen Händen ihre Brüste zu betatschen, bevor sie das Seil um sie schlangen. Verzeih mir, Schwester, meine Lästerung gegen die Ordnung der Welt. Unser Vater büßte an seinem Geschlecht, so stiegst du aus den Wogen, Schaumgeborene. Aber ich glitt weiter fort am Grund über Untergang, Tod und Verwesung. Verzeih mir. Einer wagte es gar, ihr zwischen die Schenkel zu greifen, doch riss ihn sein Gefährte weg. „Sie gehört dem Kapitän.“ Waren Heilmann und sie nicht auf einem Passagierschiff gewesen, als sie den Ärmelkanal überquerten? Dann begriff sie: Er hatte sie hier gelassen, damit das geschah. Ein Sprung durch die Zeiten und Kontinente. Auf einem Frachter vor Singapore...

Von weißbekittelten Männern mit Mundschutz wurde eine Puppe zu Heilmann hereingeschoben, deren ganzer Körper mit einem Tuch bedeckt war, das schmutzig braunrote Flecken aufwies. Nur die Füße sahen am Ende heraus. „Ein liebliches Opfer, meinen Sie nicht?“, fragte der Teufel.  Heilmann schwieg. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die einzelnen Zehen der Füße zu unterscheiden, doch ihre Fesseln waren außerordentlich schlank. Die muskulösen Männer schwitzten. Der Teufel klopfte ihnen anerkennend auf den Rücken. „Schwerer Fall.“ Hinter dem Mundschutz stieß einer hervor: „Die Nase ist zertrümmert.“ Der Dicke zog das Tuch bis zum Hals hinunter. Die Augen der Blondine waren aufgerissen und starrten entsetzt unter die Stahlträger des Dachs; ein Loch dort, wo die Nase hätte sein sollen, gab den Blick in das Innere des Kopfes frei. Heilmann erschrak jetzt doch, als er sich vorbeugte, um hinein zu schauen, denn wo Leere hätte sein sollen, krochen widerliche rosafarbene Maden hervor.  Tausche Gestalt und Namen, jungfräuliche Hoffnung. „Kommen Sie“, sagte der Teufel, „das ist uninteressant für sie. Ein dummer Schabernack. Sollte nicht passieren, kommt aber in den besten Organisationen vor. Ihnen aber, mein Herr, ging es um Blut.“ Er zog die nächste Plane vor Heilmann beiseite.

Im Port of Singapore wurden derweil auf der ´Sentosa´ die Messer gewetzt. „Wer schwimmen will, braucht nicht zu laufen.“, verkündete der Kapitän. „Zeig deine Füße vor.“ Der Melusine stiegen die Tränen in die Augen. Es wiederholt sich alles, doch ich gewöhne mich nie daran. Die Matrosen johlten in freudiger Erwartung. Sie versuchte, sich zu konzentrieren: Immergrüne Augen, Apfelbaumhaine, liebliche Jungfrauen...Vater...

Dann färbte das Wasser sich rot.




12. Vergebliche Wahrheiten
Was Heilmann vorgezeigt wurde, war unfreiwillig komisch, Kulissen einer billigen Pornoproduktion. Er verstand sich selbst nicht mehr. Wie hatte er nur auf diesen lächerlichen Fettwanst hören können? Sein Sohn. Er hatte gesehen, wie sein Sohn jämmerlich starb. Bis meines Leibes Glieder einst im Tod versinken. Nein, schrie es in ihm. Er hatte das geliebte Kind in den Armen dieses herzlosen Fischweibs gesehen, das ihn verführte, entleerte, betrog – und dazu von ewiger Liebe sang, betörend schön: „Lass wohnen mich an dir, nur deinen Namen denken, auf deinen Wogen schaukeln, deine Fluten trinken, in dich allein lass meine Blicke sich versenken.“

Er kannte sie ewig, alt wie er, waren sie beide Widerstände gegen die Ordnung der Welt, die aus der Kastration seines Vaters geschaffen ward. Die Unsterblichen sollten auf immer geschieden sein von den Kämpfen der Zeit. Aufbewahrt blieben sie bloß in den Geschichten der Erzähler, die an die Geschichte nicht glaubten: Pervigilium Veneris.  Doch mächtig genug waren sie, jederzeit, das Chaos auszulösen, in dem die Menschenkörper sich gegenseitig zernichteten. Er hatte die abgetrennten Glieder gesehen, die aufgeschlitzten Bäuche, die ans Licht gezerrten Gedärme, die Lachen aus Blut und Gehirnmasse, die gehäuteten Leiber. Er kannte keine Schuld, doch fühlte er, wenn er durch die Jahrhunderte watete, tiefe Trauer und Mitleid. So, meinte er, lautete sein Auftrag, obgleich er den Auftraggeber längst vergessen hatte.

Das Drachenweib hauchte ein Feuer in seinen Nacken,  wenn sie aus den Tiefen des Meeres auftauchte, die Flügel ausgebreitet und über den Segeln seiner Schiffe dahinstrich. So hätte es bleiben können und sollen. Doch sie tauchte tiefer und sah: Wollte ihren Leib öffnen und besitzen lassen, wollüstig sich wälzen unter einem Menschenmann und dessen Söhne gebären. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen – und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen, ihn sehen und „Willoughby“ sagen. Wie hatte er über sie gelacht und geschimpft, vor Tausenden von Jahren. Und jetzt? Als Almuth den Namen auswählte, warum hatte er sich nicht erinnert? Er hob unwillkürlich den Kopf um zu lauschen. Ihre Schreie, von ganz weit her, ein Jammern kaum vernehmbar, im Stimmenwirrwarr der Halle: „Meine Füße....“ Ihre Flugfedern werden gerupft, recht geschieht ihr!

Der Dicke hatte Heilmann unterdessen zwischen die schwarzen Planen einer Dunkelkammer gezogen. Ringsum wurden Bilder auf die sanft schwingenden Plastikvorhänge projeziert. Eine Installation, dachte Heilmann, jetzt kommt er mir auch noch mit zeitgenössischer Kunst. „Bitte, mein Lieber. Beleidigen Sie nicht uns beide. Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns immer anpassen an die Zeit, wenn wir in sie eintreten. Sie doch auch.“ Er tippte auf Heilmanns Weste. „Wobei Sie natürlich immer ein wenig exzentrisch zu wirken versuchen.“ „Wir (Heilmann hasste es, wenn jemand den Pluralis majestatis benutzte.) dagegen bevorzugen es, unauffällig zu agieren und uns die Perversionen der Mode zu Nutze zu machen, wenn Sie verstehen.“ Heilmann wandte den Kopf ab. Er konnte diesem Kerl in seiner albernen Verkleidung einfach nicht länger zuhören. Die Bilder auf den schwarzen Leinwänden waren erschütternd. Sie zeigten, dass auch die Kunst seit je an der Darstellung des Menschenopfers interessiert war, so wie die Massen an seinem öffentlichen Vollzug. Höhlenmalerei, indianische Kerben auf Leder, eine Vierteilung vor den Toren der Stadt, das verkohlende Fleisch einer Schönen auf dem Scheiterhaufen einer mittelalterlichen Stadt, ein gehäuteter Körper. „Uns beschäftigt die Frage schon lange, woher das Verlangen nach dem Opfer einer Jungfrau rührt, das wir in so vielen Kulturen finden.“ Der Teufel gab sich jetzt professoral. „Wir finden die Ursache nicht, doch können wir die Wirkungen gut verwenden.“ Er lachte: „Das ist wie bei der Lichttheorie: Teilchen oder Welle. Man weiß es nicht. Aber es funktioniert.“ Heilmann hätte ihn gern verprügelt. „Kommen Sie jetzt endlich zur Sache.“, stieß er hervor. „Ich habe die Schnauze voll von Ihrem Jahrmarkt.“ Der Dicke zuckte zusammen. „Das war nicht klug, Heilmann...“ Er hob die weichen Hände und schubste seinen Gast  grob in das nächste Viereck. 




13. Vorm Altar
In allen Regenbogenfarben schimmerten die Planen, die vor Heilmanns Augen ein riesiges Forum bildeten. Achtreihige Tribünen rahmten die in den Boden versenkte Bühne in der Mitte. „Die Puppen“, stöhnte Heilmann. Da saßen sie in Reih und Glied, eine neben der anderen. Es waren nicht nur hochwertige Exemplare darunter. Manchen hatte man die Beine brechen müssen, um sie setzen zu können, da sie keine beweglichen Gelenke hatten. Alle waren sie nackt, doch nur wenige waren fein gearbeitet. Die Brüste  der allermeisten waren bloß als Form vorhanden, ohne Brusthof und Warze. Selbst die etwas aufwendigeren blieben wenig variantenreich und setzten bloß die Konturen immer gleich symmetrisch und weder besonders breit noch spitz, die Farbe der Nippel meist ein unnatürlicher Rosé-Ton, von dem Heilmann sicher war, dass keine weibliche Brust je so ausgesehen hatte. Gummipuppen hingen schlaff auf ihren Plätzen, manche waren mit Gurten befestigt, um sich einigermaßen aufrecht zu halten. Es war grotesk und furchterregend. Die idealisierten, beschädigten, perfektionierten, verstümmelten, vereinfachten, gelöcherten weiblichen Körper bildeten den hohlen Zuschauerraum für ein schauerliches Theater.

Alle Puppen mit ihrem irren Blick starrten auf die noch leere Bühne hinab. Heilmann dachte: Die Mutter. Was wir niemals bildeten, ist die Mutter. Schau dich um, dachte er. Wie wir die Gefährtinnen erdacht haben, uns zu Gefallen, ihnen zum Ideal und Spiel, schlank, auf Zehenspitzen, biegsam, geöffnet, verschlossen, keusch, geil, still. Vor allem still. Aber wir waren es nicht. Käthe Kruse, ich erinnere an Käthe Kruse! „Ach, seien Sie still, Heilmann. Sie wissen genau, wer damit begann, das Verbot zu brechen: Du sollst dir kein Abbild schaffen. Götzen. Spielmaterial. Unsere Herrschsucht. Sie brauchten das nicht. In ihrem Schoß liegt die Macht.“ Die unfruchtbaren Schöße der Puppen schienen sich dem Satz entgegenzustrecken. Doch das bildete Heilmann sich selbstverständlich nur ein.

Meine Füße...Die Blutschlieren im Wasser zogen hinter der Melusine ihre Fäden. Sie schnitten nie tief, die Matrosen von Singapore, nur oft. So oft. Sie tauchte tiefer. Warum hast du mich verlassen, Heilmann? Weil ich deinen Sohn zu mir nahm in dunkle Tiefe. Er wäre ohnedies sterblich geworden, Heilmann. Du bist sein Vater, doch sie wurde seine Mutter. Und ich. Alle sind wir, ganz gleich, welche du erwählst. Verstehst du das nicht? Er hatte die Kralle des Löwen als Zeichen auf seiner Wange, längst bevor er mich sah. Die aber ich nur sah und erkannte in ihm, dem Ewigen, meinen Sohn, meinen Geliebten, egal, den Immergleichen. Es war doch kein Entrinnen. Wie salzig die Flut meiner Tränen. Sie hörte auf zu weinen. Es war dunkel draußen, obwohl noch die Sonne schien. Es war dunkel und da war kein Singen mehr über der See. Denn ihre Stimme, für das dichte Wasser geschaffen, schmerzte sie nun sehr, an der dünnen, leeren Luft. Wir, Heilmann, hätten einander an den Händen halten und an der Reling stehen bleiben können, einen langen Blick über die Wellen werfend. Die Zeit vergeht und wir mit ihr. Was der Menschen Los ist, wäre uns Erlösung geworden. Doch warfen wir unsere Körper ins geile Getümmel. Warum bist du so zornig auf mich?

Auf den glänzenden Leibern der Puppen spiegelten sich die Farben der wogenden Planen, blau, lila, rot, orange, gelb, grün, türkis. Alles war ein einzig kunterbuntes Treiben auf den nudefarbenen Oberflächen der Puppenkörper. Eine Trage wurde von vier kräftigen Männern in weißen Priestergewändern hereingebracht, begleitet von einem Tusch. Heilmann meinte ein aufgeregtes Gemurmel von den Tribünen zu hören, doch als er nach den Puppen sah, starrten sie stumm gerade aus. Auf der Trage zeichnete sich unter einem weißen Laken der Körper einer Frau ab. Die Träger setzten ihre Last auf einem schwarzmarmornen Podest in der Mitte der Bühnengelasses ab und traten zur Seite. Der dicke Teufel schritt, Heilmann an der Seite, einen der diagonalen Seitengängen zwischen den Tribünen hinab. Vor der Bühne wies er Heilmann einen freigelassenen Platz in der ersten Reihe an. Er trat hinter den Altar und breitete theatralisch die Schwingen seines purpurnen Gewandes aus. Auf sein Zeichen zogen die Diener mit einem Ruck das Laken weg.

Da lag er, der vollkommene Frauenkörper, ohne jeden Makel, schneeweiß, mit runden Hüften und schmaler Taille, festen Schenkeln, schmalen Fesseln, entzückenden Füßchen, unbehaart die Scham, der Nabel wie ein seufzender winziger Krater, die Brüste wie zwei sanfte Hügel mit steiler Spitze, ein schwanenhafter Hals. Heilmann schrie. Allein, ihr Schlangenmund, die starken Nasenflügel, das Muttermal auf der linken Wange, die weit geschwungenen Augenbrauen über den geschlossenen, schuppigen Augenlidern. Der Kopf aber war kahlgeschoren. „Almuth.“ Der Kopf der Mutter meines Sohnes auf den Körper einer Puppe montiert. „Nein!“



14. Blutzoll 
Ich schreie, weil meine Sehnsucht so groß ist. Sie schrie nicht. Der Teufel lachte Heilmann aus. „Es ist eine Puppe.“ Er war neben Heilmann getreten und zog ihn am Ärmel. „Treten Sie näher.“ Heilmann ekelte sich. Was für ein Schmierentheater. Er streifte die Berührung des weichlichen Priester-Parodisten ab. „Finger weg.“ Aber er stand auf. Der Teufel verschränkte die Arme. „Wie Sie wollen.“ Er wirkte dennoch gekränkt. Das verlieh Heilmann neue Zuversicht.

Er trat an den Altar heran, der nicht aus dem Boden herausragte, sondern in diesen eingelassen war. Ihr Gesicht, verwandelt zwar, doch unverkennbar. Almuth war eine Schlange. Hatte er das nicht immer gewusst? Er schaute auf sie hinab und glaubte einen Augenblick lang, dass sie sich winde. Ihre Hände aber lagen still. Sie waren aalglatt und billig gemacht, die Nägel nur als Kerben angedeutet. Er dreht sich zu seinem Verführer um: „Da haben Sie sich zu wenig Mühe gegeben. Almuths Finger konnten...“ „Heilmann, es ist nicht Almuth.“ Heilmann seufzte. „Was soll das Ganze? Eine Puppe, die Almuth gleicht...“ „Die Schlange, die Sie in Almuth sehen. Auch ihre Hände sind Ihr Werk, Heilmann.“ Heilmann schüttelte sich. Das Schimmern, wenn Licht auf nassen Samt fällt. Die Finger der Puppe wandelten sich zu schmalgliedrigen Gelenken, überzogen von weichfaltiger Haut, die Nägel bildeten sich zu zarten Muscheln aus, lackiert in jenem dunklen Bordeaux, das Almuth liebte. So war es doch: Almuth liebte. Liebte ihn. Liebte das Kind. Mein Sohn. „Deshalb sind Sie hier, nicht wahr?“ „Sie soll die Augen aufschlagen.“ Der Teufel lachte. „Sie überschätzen mich.“ Heilmann sah zornerfüllt auf. „Was soll das heißen? Haben Sie mir nicht gesagt...?“ „Sie haben mir nie zugehört, Heilmann. Obwohl sie kein Mensch sind, haben sie sich unter denen lebend fast zu einem entwickelt. Sie hören längst nur noch, was Sie verstehen wollen.“

Melusine hatte ihn gewarnt. Das Fischweib wollte immer alles besser wissen. Doch sie vergaß. Sie tauchte hinab in diese Tiefe, während er oben bleiben musste. Sie kannte die Zeit nur als Traurigkeit, die sie nicht verstand. Er lebte sie durch. Das Geschwür, das sich durch die Eingeweide seines ältlichen gewordenen Sohnes fraß, während er jugendlich lustig sein Hütchen an Bord eines Cruisers schwenkte – wie soll ein Vater das ertragen? „Ich wandere auf blutigen Füßen von Ozean zu Ozean, Heilmann“, hatte sie geantwortet. „Betrogner Liebe Schmerz soll nicht unsterblich sein? Das Tatzenmal auf der Wangen meines Ältesten habe ich mit meinem Leiden getilgt. Keines meiner Kinder sah ich erwachsen werden. Kein einziges unter ihnen könnte ich in einer Menschenmenge erkennen. Bevor ich zu Asche verfiel, schenkte ich einmal dem Mädchen ein Amulett, glaube ich. Das war als London unterging. Werde ich sie wiedererkennen, nur einmal?“ Heilmann hatte ihre Verzweiflung gefühlt und verstanden. Doch war es sein Auftrag, sie vergessen zu lassen. Sie ahnte wohl kaum, dass er ihr Teufel war.  Hätte Melusine gewusst, wäre die Welt stehen geblieben. So lang sie sich drehte, erschien er, Heilmann, zuverlässig auf dem Plan. „Es braust dein warmes Blut durch meine kalten Adern.“

„Sie träumen, Heilmann. Vergessen Sie nicht, dass Sie mich um dieses Treffen baten.“ Auch Melusine zahlte einen Blutzoll, soviel war wahr. Doch verging sie sich nicht an menschlichen Körpern. Was von Heilmann verlangt wurde, war... Der Teufel lachte erneut: „Unmenschllich? Heilmann, Sie amüsieren mich. Wirklich. Wie viel Leid haben Sie in die Welt gebracht – und nun geben Sie sich als Menschenfreund.“ Heilmann sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Schwarze Löcher. Dass der Kerl keine Kontaktlinsen trägt wie ich. Ich lasse doch auch keinen direkt hineinsehen in die meinen. Wieder so eine Nachlässigkeit. „Wir sehen das spielerisch. Und scheuen vor billigen Effekten nicht zurück. Das stimmt. Was aber scheuen Sie, Heilmann?“ Heilmann sah hinab auf die Puppe. Almuth. „Warum die Mutter?“ „Eine Puppe, Heilmann. Nur eine Puppe, die ihr gleicht.“ „Sie sagten, sie werde bluten.“ „Das sagte ich. So wird es sein. Doch nur wenn Sie es wollen, Heilmann.“ Jeder Traum ist ein Wunsch?

15. Bloß gestellt
"Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass es ein Sarg ist?“, fragte Heilmann. Der Teufel zuckte wahrhaftig zusammen. Heilmann streifte ihn mit einem Seitenblick. Wie satt ich das habe, dachte er. Der Teufel soll schlank und durchtrainiert sein, hellwach und ein wenig arrogant, kein jovialer Fettwanst. Der Dicke legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. Sie war feucht. Der Teufel schwitzte auch noch. Es war widerlich. „Ich bitte Sie“, flüsterte der Dicke, „Sie haben doch nicht wirklich an die Sache mit dem Fegefeuer geglaubt?“ „Was?“, schnaubte Heilmann. „Sie scheinen anzunehmen, ich müsse gegen die Hitze immun sein.“ Es war tatsächlich grässlich warm in der Halle, wo sich die Luft zwischen den Plastikplanen staute. Heilmann fühlte, wie sich unter seinen Achseln und an der Gürtellinie die Feuchtigkeit sammelte. Unwillkürlich rümpfte er die Nase. „Und jetzt?“ Er sah auf Almuth hinab. Das heißt: auf die Puppe, die Almuth glich. „Das fragen Sie mich?“ „Wen sonst?“ Der Teufel zog ein großes, weißes Taschentuch aus einer Seitentasche seiner Soutane und wischte sich die Stirn. „Es ist ihr Opfer, Heilmann. Sie müssen es bringen.“ „Dann wird mein Sohn leben?“ „Was Sie so nennen.“ Heilmann wandte sich scharf um. Er packte den falschen Priester am Kragen. „Was soll das heißen?“ Die feisten Finger legten sich um seine Handgelenke und senkten langsam seine Hände ab. Die Puppen starrten unverwandt und ungerührt. Die Verzögerung beunruhigte sie nicht.

Der korpulente Mann gab mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand ein beinahe unsichtbares Zeichen. Heilmann wunderte sich später stets, dass er es überhaupt bemerkt hatte. Nichts geschah. Der Teufel wiederholte sich. Es war still. Kein Trommelwirbel in der Luft, keine Ankündigung eines Showmasters, keine Kichern aus dem Publikum, nicht einmal ein Atemgeräusch ging von den Tribünen aus. Es war still und Heilmann hörte.

Den Wehgesang der Melusine. Deren Füße bluteten im salzigen Wasser aus. Sie klagte ihr Leid durch die Wellen, sie sang ihre Sehnsucht an gegen den Sturm: „“Wie ich dich liebe, dich nur begehre, an dir vergehe, mich dir ergebe, mich durch dich fülle, von dir empfange, deine Brut, die Feuer atmet, deine Brut, die mich versengt, deine Brut, an der ich hafte, deine Brut, die mich entstellt.“

Heilmann fühlte das Messer in seinen Händen, den kalten Stahl auf seiner schweißigen Haut. „Er ist auch dein Sohn.“ Hatte er das geschrien? Der Dicke hat in der untersten Reihe Platz genommen und schaute ihn unbeteiligt an. „Was?“ Heilmann fuchtelte mit dem Messer herum. Der Dicke zuckte nicht einmal die Achseln. „Soll. Ich.“ Heilmann fluchte lautlos. Es war still, atemlos still. Nur sein eigenes Schnauben durch die Nüstern war zu hören. Ich bin kein Menschenmann. Almuth blieb regungslos liegen. Das heißt: Die Puppe, die aussah wie Almuth. Er musste sich das klar machen. Das Ganze war eine schäbige Inszenierung.  Er könnte der Puppe mit einem Schnitt den Kopf abtrennen und nichts wäre geschehen, als dass eine Plastikhülle vom Tisch rollen würde.

„Die Sterblichen saugen uns aus. Geliebt habe ich einen solchen, Söhne geboren und alles verloren. Wieder und wieder und wieder. Du zogst durch die Zeiten, Heil-Mann, ungerührt. Sahst meine Leiden. Vergaßt sie mit mir. Du denkst, ich wüsste nichts. Du hast mich geborgen. Mal um Mal. Noch meine Asche aus der See. Und ließest mir wieder Flossen wachsen, den Schwanz, die schuppige Haut. Wie weh die Füße sind, wenn sie erscheinen...Es gibt kein Bewusstsein, das keinen Teufel kennt. Heil-Mann. Du hast dir den deinen erfunden, wie ich dich erschuf.“

Sie sang nicht mehr aus dem fernen Meer; sie saß neben dem Teufel auf der Tribüne und deklamierte wie eine Burgschauspielerin. Mit den wunden Füßen plätscherte sie in einem Fußbad. Heilmann stieg ganz leicht der Geruch der waldigen Essenzen in die Nase: Eichenrinde, Wacholder,  Salbei. Es war der reinste Hohn. „Wo kommst du denn her?“ Er flüsterte wie ein Schauspieler auf der Bühne, der seinen Text vergessen hat. Sie sprach so leise, als sei sie seine Souffleuse: „Glaubtest du im Ernst, du könntest mich einsperren, Heilmann?“ „Du hast gebüßt. Dafür. Und mehr.“ Sie plätscherte heftiger mit den Füßen. „Immer. Wie du es vorsahst. Jetzt bist du dran. Nach tausend Jahren.“

Plötzlich stand er neben hier, setzte die Messerspitze unter ihr Kinn. Sie sah ihn mit großen Augen an, von unten herauf ließ sie die Wimpern kokett klimpern. Er zitterte vor Wut, das Messer ritzte ein wenig ihren Hals, nicht tief genug für Blut. „Wo keines ist, kann auch keines sprudeln.“ Sie lachte leise. Er ließ das Messer an ihrem Hals hinunter gleiten, sah wie die seitlichen Muskeln spannten, während sie sich mühte ruhig zu atmen, den Bauch tief einziehend, wenn sie ausatmete mit einem sanften Hauch, den sie in sein Gesicht blies. Sie roch nach Meer und Algen, jedoch nicht unangenehm. Er tippte mit der Messerspitze zwischen ihr Dekolleté und drückte den weißen Stoff ihres schulterfreien Oberteils ein wenig hinunter. Sie zog den Bauch tiefer ein, aber ließ seinen Blick nicht los. Ihre Augen leuchteten grün. „Waren sie nicht blau? Zuletzt?“, fragte er. „In Rom“, erwiderte sie, „in Rom waren sie blau.“ „Und dort, wo mein Sohn lebte.“ „Auch dort, ja.“ Er legte mit dem Messer ihrer linke Brust frei. Sie seufzte. „Sie sieht echt aus.“ Er schaute zu den Puppen hin, die links und rechts von ihr saßen mit ihren stilisierten Brüsten. „Sie ist echt.“ Sie sahen sich an. Eine Ewigkeit lang. Eine Träne löste sich aus ihrem linken Auge. Es war jetzt braun mit einem hellen honigfarbenen Ring um die Iris. Er fühlte, wie sich auch in seinen Augen die Feuchtigkeit sammelte. Er wandte sich ab und trat wieder hinunter neben die im Boden eingelassene Bahre, auf der seine Frau lag, die Mutter seines Sohnes, Almuth, die nicht Almuth war, sondern eine Puppe, die Almuth glich. „Weil du kein Mann bist.“ Hasserfüllt hatte sie den Satz herausgeschrien, der ihn in den Rücken traf. Er fuhr herum. „Warum nicht?“ „Kein Mann für mich.“ Das klang kleinlaut. Sie hatte den Blick gesenkt. „Den Schoß kann ich dir nicht öffnen.“ Er folgte ihrem Blick. Ins Fußbad schlug sie mit der Flosse.  



16. Mutter-Tag
Blut musste fließen. Er wusste, dass es notwendig war. Woher wusste er das? Hatte der Teufel es ihm gesagt, damals am Tresen in Berlin oder in dem Café in Rom? All die Jahre, die flüchtigen Begegnungen, die Andeutungen, das Raunen der heiligen Texte, die Bedeutungsschwere, mit denen sie aufgesagt wurden, von diesen und jenen, meist waren es Männer gewesen, traurige Männer, unbeweibt, gedrückt, unerkannt, verachtet oder lächerliche Poser, die mit ihren Eroberungen angaben, sich in den Schritt fassten und kratzten und von „guten Ficks“ prallten. Er hatte das ganze Konzept so über, das ihm die Galle hochkam. Die Opfer, die schönen Leichen, das pralle, blaße Gewebe, die grünliche Entsagung, die holden Locken auf die spitzen Brüste drapierte, die düsteren Hintergründe, das schwarze Loch. Woher wir kommen, wohin wir gehen. Es war alles Unsinn. Er sehnte sich nur nach der Endlichkeit. Deshalb stand er hier. Deshalb war er bereit, den Körper der Frau aufzuschlitzen, die er geliebt und mit der er den Sohn gezeugt hatte.  Aber wie können Flüsse und Berge und das Meer unwirklich sein, hatte sie ihn gefragt. Wie ein Kind. Das alte Kind, das sein Sohn geworden war aber, zerstört von der Krankheit, die seine Eingeweide zerfrass. Heilmann schaute an sich hinab: Ich bin dein Leib, dachte er. Er war der, der durch die Zeiten wandelte, leichtfüßig, sorglos, charmant. Der die Wasserfrau aus dem Fluss barg und das Drachenweib auffing, der ihren feurigen Atem kühlte und ihre blutigen Füße verband, der ihre Tränen trocknete, wenn sie ihre Brut verlor, wenn sie verraten wurde und aus dem Nest geworfen, wie es immer geschah und wieder und wieder, weil sie liebte und gebar. Nie durfte sie einem ihrer Söhne wieder begegnen in anderen Zeiten. Das war sein Auftrag, den erfüllte er gut. Bis Almuth kam. Almuth, die einmal ganz anders geheißen hatte.  Edith. Deren Augen grün waren oder blau oder braun.

Almuth war nicht Melusine. Almuth war die, die des Teufels war. Die Melusine war nicht gut, nicht böse; sie plätscherte im Wasser wie ein Fisch, der keine Erinnerung hat. Warum sollte sie traurig sein? Doch er hatte sie gesehen, hier und da, in Moskau, Unter den Linden, am stillen See in der Mark, im Zug nach Zürich, in den Tiefen des Indischen Ozeans, vor der Barrier von London. Sie wusste nichts und ahnte alles. Ihr Kommen und Gehen, seine Hand auf ihrem Arm: „Kommen Sie, Madam. Hier entlang.“ Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Er hatte Almuth geliebt. Er musste Almuth lieben. Alte weiße Hexe, Muttertier, hatte er sie genannt. Aber Melusine war eine Frau, die Mutter an seiner Seite durch alle Zeiten. „Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“ Da war sie zusammengezuckt.

„Du musst es tun, Heilmann.“ Er schaute auf. Sie war jetzt ganz aufmerksam. Der Teufel war zur Statue erstarrt. Die Puppen stierten. Die Augen der Melusine waren weit aufgerissen. Ihr Mund stand offen. Wie dumm sie aussah, wenn sie auf Puppe machte. Er wollte lachen, wollte sie auslachen. Da bemerkte er, dass auch seine Glieder steif geworden waren. Er konnte den Kopf nicht bewegen, die Beine nicht, nicht den linken Arm. Nur die Hand um das Messer war warm. „Heilmann.“ Sie sprach mit offenen Mund, ohne die Lippen zu bewegen. Als komme die Stimme von einem Tonband aus ihrem Körper. „Schneid ihr die Augen auf.“ Heilmann versuchte seine Lider zu schließen, doch es gelang ihm nicht. Er schaute hinunter auf die Puppe, die aussah wie Almuth. Das Blut pulsierte an deren Schläfen. Das war kein Plastik mehr, das war der lebendige Leib, den er begehrt hatte. „Dein Sohn wird leben, wenn du die Mutter schlachtest.“ Das Weib war grausam, weil das Blut in seinen Adern grün war wie das Meer, sein Element. „Du lügst“, wollte er schreien, doch seine Zunge ließ sich nicht bewegen. Jetzt hätte er sich gern an den Teufel gewandt, doch der war zu einer Schaufensterpuppe für Übergrößen erkaltet. Der Teufel schwitzt nicht. Hatte er das nicht gefordert? Einen coolen Teufel? „Du kriegst immer, was du willst, Heilmann, nicht wahr? Nur ist es nie, wie du willst.“ Sie kicherte. Er fühlte den Hass wie eine warme Welle in sich aufsteigen. Seine Finger füllten sich mit seinem heißem Blut. Er schloss sie fester um den stählernen Griff des Messers. Er konnte jetzt wieder seinen ganzen Körper spüren, von den Zehen bis zu den Fingerspitzen. Seine Kopfhaut juckte. Es war heiß. Noch einmal schaute er zur Tribüne hin. Die Melusine war verschwunden. Nur der Eimer, in dem sie mit ihrer Flosse geplätschert hatte, stand noch da.

Der Teufel räusperte sich. Heilmann hob den rechten Arm. „Sie sollten nicht wahllos zustechen. Es geht um das Sehen. Sie darf ihren Sohn nie mal sehen. Den Unsterblichen.“ Der Teufel kicherte wie die Melusine. „Schneiden Sie ihr die Goldaugen heraus. Das genügt.“ Almuth unter ihm auf der Barre räkelte sich. Sie schlug die Augen auf. Das Mädchen mit den Goldaugen. Heilmann zuckte. Jetzt. Er senkte das Messer und stieß zwischen Höhle und Jochbein. Almuth schrie. Ihre Hände fuhren in die Höhe. Sie führte seinen Arm, lenkte die Messerspitze unter den Augapfel und hob ihn an. Ein Ruck und er kullerte über die Barre zu Boden. Der Schrei verstummte. Der Teufel presste einen Knebel auf den Mund der wehrlosen Frau. „Das andere. Schnell.“ Heilmann schnitt. Er war ungeschickt. Aber ihm wurde geholfen. Das Auge war verloren. Er schloss die seinen. Die goldenen Augen purzelten über den grauen Beton.

Die vergoldete Kreatur zapppelt – und wirbelt –
Taumelt rasend zwischen Ästen hin und her –
Schlitzt ihre mächtigen Adern auf –
Und stürzt hinunter ins Meer. -

Heilmann hörte sie singen unter der Wasseroberfläche, wie er sie immer schon hatte singen hören. Er hatte ihr nur niemals zugehört. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er auf die Puppe.  Leere Höhlen. Auf dem Boden lagen die vergoldeten Plastikaugen. Still. Er kickte sie mit dem Fuß zur Seite. Der Teufel klatschte einen schäbigen Beifall. „Na also.“ Er klopfte Heilmann auf die Schultern. „Kommen Sie. Das hat Jahrhunderte gedauert. Aber schließlich... Ich bin zufrieden.“ Er hörte sich an wie ein Therapeut, der mit einem sehr schwierigen Patienten verhandelte, winzige Veränderungen als gigantische Fortschritte anpries.

Du kannst mit mir anstellen, was du willst
Immer überlebe ich dich.

Die Puppenversammlung löste sich auf. Schöne, nackte Frauen stiegen die Tribünen hinunter, in angeregte Gespräche vertieft. Auf Heilmanns hellem Anzug waren zwischen dem ersten und dem zweiten Knopf zwei winzige Bluttropfen hängengeblieben. Kaum zu sehen. „Das wird man nicht bemerken.“, flüsterte der Teufel wie ein Verschwörer. Heilmann ekelte sich. „Mein Sohn?“ „Sie werden sehen.“ Der Teufel schien sich zu amüsieren. „Es wird anders sein, als sie erwarten. Aber ich halte meine Versprechen. Doch nun kommen Sie. Sie müssen hier weg, bevor...“ Der Teufel unterbrach sich. Das ging Heilmann nichts an. „Die Mutter wartet auf sie.“ „Almuth.“  Der Teufel schüttelte den Kopf. „Sie haben sie unter Deck eingeschlossen. Haben Sie das schon vergessen?“ Sie schritten eilig nebeneinander durch die Hallen. Im Hof wartete ein Taxi auf Heilmann. Der Teufel schob ihn geradezu hinein. „Zum Hafen.“, rief er dem Taxifahrer zu und winkte. Heilmann lehnte sich im Fond zurück. Er drehte sich nicht um, als sich das Eingangstor hinter dem Wagen schloss. Er würde den Teufel nicht wiedersehen. Plötzlich kamen ihm die Tränen.

Die Mutter derweil unter den Wellen: Jeder Riss der Erde tut ihr weh. 



17. Keine Frau opfert sich für die Kunst
Er war also über Bord gegangen. Das ließ sie nicht gelten. Es musste heißen: Er war von Bord gegangen. Andererseits: In der Fabrik der Engel war er baden gegangen. Sie schüttelte sich. Vielleicht vor Lachen. Er hatte getan, wovon er glaubte, dass es getan werden musste. So männlich. Dabei war er gar kein Mann, auch wenn sie zwischendurch einmal versuchte hatte, daran zu glauben. Und wenn ich dich liebe, was geht´s dich noch an? Als sie in der Bar gesessen hatten (War das in Rom gewesen oder wo?) und sie seine Tränen zu trocknen versuchte. Wer achtet einen Mann, der nicht weinen kann? Das alles spielte jedoch gar keine Rolle mehr. Vielmehr: Es hatte zwischen ihnen beiden nie eine gespielt. Er war so wenig ein Mann gewesen wie sie eine Frau. Sie waren männlicher und weiblicher als jede menschliche Kreatur. Zeugend und gebärend. Triebhaft und bewahrend. Beschützend und fliehend. Ach, was für ein vergebliches Spiel. Es gibt kein Entrinnen. Unter uns brodelt es weiter in der mütterlichen Grotte. Wir waren uns dessen bewusst, jederzeit, ohne etwas davon zu wissen. Man spricht unter den Sterblichen immerzu von der unglücklichen Liebe. Wie groß ist die Sehnsucht nach einem ungebrochenen Herzen.

Heilmann, wenn du zurückkehrst, wie soll ich dich dieses Mal empfangen? Mörder. Heiler. Mann. Ich hätte gerne Worte, schlicht und dumm, wie diese hier: „Ich werde dich immer lieben.“ („Einst ward ich gewahr, dass alle die Wesen, die aus dem Meere gestiegen waren, wieder zu ihm zurückkehrten, und sich in wechselnden Formen erzeugten.“) Wir könnten das Almuth in den Mund legen. Almuth ist blind, aber nicht stumm. Du hast ihr die Augen herausgeschnitten, wie der Teufel es dir befahl. Ach, Heilmann. Warum hast du dem Teufel vertraut? Als wer soll dein Sohn ewig leben? Willoughby, den ich zwischen meine Schenkel klemme? Am liebsten schriebe ich dir wie sie: „Deine Frau und Freundin“. Dann...

Sie lachte schauerlich. Wie er sie unter das Bett zusammengefaltet hatte. Und sie war doch davon geschwommen. Wenn sie es wollte, war überall mehr Meer. Und sie sah mit den Augen der Unsterblichen die Fülle der Welt. Heilmann musste doch jetzt für immer an der Reling stehen und seinem sterbenden Sohn winken. Er wird nicht mehr töten, sein Sohn. Er wird die Qualen tragen. Selbst. Ein makelloser Mann, sterbensmüde, der mit Freund und Feind in die Luft fliegen wird. Wie konntest er die Barrier vergessen?

Wir machen keine Geschichte. Wir sind.

War er einmal schön, so schön, dein Sohn, mein Willoughby, dass ich ihn zu meinem Geliebten machte? Trug ich sein Kind unter dem Herzen, deinen Enkel,  Heilmann? Das ist doch alles gelogen. Wir können nicht lieben, nur begehren. Wir laufen aneinander vorbei. Ich habe nur einmal gefühlt, wer ich bin: Als ich mit dir am Ufer stand. Aber in Wahrheit sind wir immer schon in den Wogen. Wir können nicht springen. Dagegen kämpftest du mit der Bilderflut, den Bücherbergen, den Alkoholexzessen. Heilmann, du warst klüger, als du unmenschlicher warst.

Schnee, sie dachte plötzlich an Schnee. Sie hatten einmal gemeinsam nach draußen geschaut, wie die Flocken über der Straße tanzten. Sie hätten dort bleiben sollen. Schauend und staunend. Oder am See. Wie sie es stets vermieden hatten, einander an den Händen zu berühren. Nur einmal hatte sie ihn gepackt. Ein Versehen. Sie hatte ihn für den anderen gehalten, für seinen Sohn, den sie verführen wollte. In Wahrheit hatte sie geweint, als der Rauch über den schneebedeckten Dächern aufgestiegen war.

Aber ich wusste nicht, dass es dein Sohn war. Ich wollte Almuth bestrafen, dabei war sie damals noch nicht einmal geboren. Ihre Augen waren übrigens blau, vergiss das nicht. Der Teufel hat dich teuflisch betrogen, als er dir das goldene Licht vorgaukelte. Ich kenne den Teufel gut. Ich spreche, wie er, die Sprache der Liebe. Versteh das bitte nicht als Hohn.



18. Rückkehr nach Europa
Heilmann riss die Kabinentür auf: „Bist du nun zufrieden?“ Er war entschlossen, zuzuschlagen. Warum hatte sie ihn bloß so gereizt? Das Plätschern mit der Flosse in der Wanne. Hatte sie gedacht, dass er Almuths Opfer annehmen würde? Dass er den bösen Hinterhalt nicht durchschaute? Keine Frau opfert sich für die Kunst. Unser Sohn ist nie aus ihrem Schoß gekrochen. „Ein reines Produkt deiner abscheulichen Fantasien, Melusine. Willoughby, dass ich nicht lache.“ Er öffnete seinen Kragen und band die Krawatte ab. „Komm raus.“ Sie verkroch sich tiefer unter dem schmalen Bett. Er trat nach ihr. Ihre Rippen krachten. Sie weinte still. Dass es doch immer so kommen musste. „Ich wäre dir gerne eine bessere Frau gewesen.“


Das Schiff tanzte besinnungslos über den Wellen. Heilmann und Melusine waren längst nicht mehr an Bord. Während des Untergangs der Sentosa saßen sie rittlings auf ihren Hockern in jenem Pub in London, den sie niemals verließen. 52 Seeleute philippinischer Herkunft, so meldete es Radio Singapore wenige Tage später, ertranken im Indischen Ozean als die Sentosa kenterte. Die Melusine fühlte keine Reue. Mögen sie in Frieden ruhen, dachte sie. Gerettet wurden 25 messerlose Matrosen, unter ihnen der Kapitän aus Bremerhaven, und verbracht auf die Insel der Toten vor Singapore, damit sie weiterlebten und fuhren.

„Du konntest niemandes Frau werden, am wenigsten die meine, Kopfgeburt.“, stöhnte Heilmann. Sie grinste. Die Grimasse entstellte ihr meerjungfräuliches Antlitz. „Bin ich blond?“, fragte sie höhnisch. Und: „Du kannst mir alles vorwerfen, aber nicht androgyn zu sein.“ Heilmann antwortete nicht. Sie rutschte von ihrem Sitz hinunter und griff nach Heilmanns Glas. „Dann eben Nachschub.“ Heilmann rührte sich nicht, auch nicht, als sie ihm das nächste Ale vor die Nase stellte. „Ich dachte“, näselte sie, „die Barrier sei gebrochen und London geflutet.“ Sie schnippte mit ihren Fingern unter seiner Nase herum. „Wann immer du willst, wird es geschehen sein.“, flüsterte er. „Mein Sohn stirbt nicht. Das war es mir wert.“ Die Melusine nickte, aber es wirkte nicht wie Zustimmung. „Zumindest war es ein sauberer Schnitt.“ „Ich hatte vergessen, wie golden ihre Augen glitzerten, wenn sie mich hinterging.“ „Almuth kannte sich aus und war doch schon immer verloren.“ „Sie ist alt geworden“, sagte Heilmann, „in Wirklichkeit.“ „Daran kann der Teufel nichts ändern.“

Sie schwiegen wieder eine Weile. „Erinnerst du dich an Rom?“, fragte sie dann. „Wie könnte ich das jemals vergessen? Du gabst dich jungfräulich dort, unmütterlich und rosafleischig.“ Sie kicherte. „Das ist gelogen. Ich hinterlasse überall meine Söhne, denn ihr könnt keine Göttin lieben, die die Erde vergisst, aus der sie geboren ward.“ Heilmann kamen die Tränen. „Und fühlst doch keine Sehnsucht nach ihnen.“ Sie schlug ihn mit ihren kleinen Fäusten gegen die Brust und schüttete ihm dann den Rest seines Ales ins Gesicht. Er zuckte kaum: „Ich habe dir Gewalt angetan, wie einer jeden. Meinem Auftrag entsprechend: Die Illusion erweckend, ihr könntet euch wehren.“ Sie glitt zu seinen Füßen. Er sah, wie ihr Fischschwanz über den Dielenboden strich. Sie verzehrte sich nach den Flügeln, um diesem Gespräch zu entkommen. „So schnaubst du, Drachenweib, und kannst sie doch nicht mehr wachsen lassen, weil du nur Männer der Tat erwähltest.“ „Ich habe nie etwas über mich vermocht, nur über die Willoughbys.“, keuchte sie gegen die Bretter. „Ich weiß. Und dass er mein Sohn war, werde ich dir nie verzeihen.“, sprach Heilmann von oben herab. Darauf gab es keine Antwort. Er wusste ja, wie wenig sie dafür konnte. Und alles. „Wenn ich nur einem einzigen beim Aufwachsen zusehen dürfte...“, schluchzte sie unten. Heilmann strich mit dem Finger über den Rand seines Glases. Eine schauerliche Melodie. „Ich verachte dich, wenn du diese Maske aufsetzt.“

Heilmann trank. Viel zu viel. „Du gehst fort und schwimmst, tauchst und singst.“ „Ich versinke, Heilmann, jedes Mal tiefer. Und bin doch immer ich. Almuth kann ich nicht werden. Alt, tot und verwesend.“ „Sie hatte unser Kind. Ich schnitt in ihr Auge, damit er lebe.“ „Ein Fehler, Heilmann, und keiner. Du änderst den Lauf der Welt nicht. Wenn du wüsstest, wie es sich anfühlt, zu gebären...“ „Ein jeder weiß, wie es ist, geboren zu werden.“ Die Melusine verkniff sich ein Lächeln. Was er sich einbildete. Heilmann eben. Der Dichter.  Fürst der Finsternis: „Dein Fleisch ein wabernder Sumpf, ein Moor der Säfte.“ (Kein Mann. Nirgends.)

Er kippte vom Stuhl. Gerade eben hatte er noch unverrückbar gewirkt. Aber genug war eben doch genug. Selbst für Heilmann. Sie nahm ihm die Brille ab und roch an seinem Mund. Eklige Säure bereitete sich zur Eruption vor. Die Melusine legte Abstand zwischen sich und den Bewusstlosen. Sie schwamm. Durch die Themse, dem Nordmeer entgegen.

Er hätte mir eine Tochter schenken sollen. Diese quälende Lust weitergeben, in welcher meiner Körper das Leben hält: Europa.


19. Zurück auf Anfang


"Dass du dir diese Gestalt gibst, Heilmann, macht dich nicht glaubwürdiger." Sie klang härter, metallischer, ihre Stimme, als sie beabsichtigt hatte. Heilmann war aus seinem Suff erwacht und blinzelte hinter der Brille, die sie ihm auf die Nase gesetzt hatte. Er wollte sie mit der Hand wegwischen, dieses Gestell einer demonstrativen Intellektualität, mit dem sie ihn ausgestattet hatte, absichtlich, um den Blick abzulenken, nicht nur den ihren. Bei Almuth hatte er nie eine Brille getragen. Seine Lider wie weggeschnitten, so hatte er Almut gesehen, kein Zwinkern hatte seine Augen auch nur für Sekundenbruchteil von ihrem Antlitz verschont. Almuth, der er zuletzt die Augäpfel ausgeschnitten hatte, um den Teufel zu befriedigen. "Doch nur im Traum." "Between grief and nothing."

Sie saß auf seiner Bettkante, die Melusine, sah hold und demütig aus wie eine gütige Mutter und schob ihr Knie unter seinen Kopf. Er wollte nicht ruhen, sich nicht an sie lehnen. Er gab ihr noch immer an allem die Schuld. Aber sein Körper gehorchte ihm nicht. "You took nothing." Sie sprach es ohne jeden Vorwurf aus. Er war noch nie ein alter Mann gewesen. Der Teufel hatte ihm einen Deal angeboten und er hatte ihm die Mutter geopfert für den Sohn. Um diesen Preis: Dein Sohn wird leben, wenn du dich ergibst. "Kann nicht kapitulieren", hatte aber die Melusine einmal über ihn gesagt. Das musste im 20. Jahrhundert gewesen sein, nach einem der großen Kriege. Sie lächelte müde auf ihn herab: "Da liegst du nun."

Er wollte sich erheben. Standhaft bleiben. Ihr Lachen perlte in seiner Erinnerung. "Du gibst keinen Helden ab mit deinem Stohhütchen und deinem gestreiften Sommeranzug, Heilmann. Zierlich wie du bist und weich." Das war 1913. Da waren die Härchen auf seinem Handrücken blond gewesen, die sich aufrichteten, ihren Fingern entgegen. Der Wind strich über das kaspische Meer, Turkmenbasi hieß der Hafen, in dem ihr Schiff anlegte. Das war jedoch ohne Bedeutung. Ihrem Schicksal begegneten sie dort nicht. Sie verbrachten nur wenige ruhige Tage unter Deck. Als wenn Almuth nicht werden würde und keine Willoughbys, nirgends. Als habe die Zukunft sich verzogen, gelegentlich, doch währte es niemals lang. Wie damals am See.

"Heilmann. erinnerst du dich?" Er schwieg. So leicht konnte er ihr nicht vergeben. Und sich. Sie ergriff seine Hand. "Sieh, wie die Adern hervortreten." Er kniff die Augen absichtsvoll zu wie ein störrisches Kind. "Du wirst nun runzlig, Heilmann. Für ein einziges Leben des Willoughbys hast du dich hergegeben." "Mein Sohn..." Heilmann wollte sich rechtfertigen mit weiter geschlossenen Augen. "Pscht..." Sie fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen. "Ich weiß. Ich verstehe es nicht. Du hättest doch wissen müssen...Au." Er hatte sie in den Daumen gebissen. Sie beugte sich über sein Gesicht: "Mein Kind." Heilmann war wie gelähmt. Er hätte sie schlagen müssen, sie unter das Bett treten wie zuvor, um dem vorzubeugen. 

"Du weißt, du kannst niemandes Heimstatt sein." "Mein Sohn.." wiederholte er trotzig. Sie stand auf. "...bist du.", setzte sie den Satz fort. "Du dachtest wahrhaftig, du könntest mir entkommen, Heilmann." 

Sie hatte ihre Drachengestalt angenommen, ihn schauderte vor ihrer schuppigen Haut. Wie gewaltig sie über seinem Bett lungerte, wie sie ihn anfauchte aus ihrem riesigen, feurigen Maul, wie sie die Flügel ausbreitete in der winzigen Kammer und die Wände fortsprengte und flog. Als ein kraftloser Greis hielt er den Himmel in Armen. Um ihn lichteten die Flammen, verglühte das Holz, verkohlte sein knochiger Körper. Asche stob auf  und fiel grau in sich zusammen. 

Dann.

Da war mir als sey ich entsprungen
Dem innersten Leben der Mutter,
Und habe getaumelt
In den Räumen des Äthers
Ein irrendes Kind.

Heilmann weinte in seiner Wiege: "Maman."


Zitate aus:
Agneta Ara: Die Puppe
Bettina von Arnim: Die Günderode
Jane Austen: Gefühl und Verstand
Ingeborg Bachmann: Undine geht
Honoré de Balzac: Das Mädchen mit den Goldaugen
Walter Benjamin: Moskau
Emily Bronte: Stürmische Höhe
Gottfried August Bürger: Des Pfarrers Tochter von Taubenhain
Emily Dickenson: Gedichte
Blaga Dimitrowna: Die Schwangere
Theodor Fontane: Irrungen. Wirrungen.
Theodor Fontane: Der Stechlin
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Janet Frame: The Lagoon
Rainald Goetz: Moskauer Tagebuch
Rainald Goetz: Irre
Alban Nikolai Herbst: Charlotte von Lusignan
Alban Nikolai Herbst: Meere
Merri Lisa Johnson: Jane sexes it up
Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte
Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit
John Stuart Mill: Die Hörigkeit der Frau
Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob
Franziska zu Reventlow: Amouresken
Edith Sitwell: Englische Exzentriker
Jean Rhys: Sargassomeer
Leo Tolstoi: Krieg und Frieden
Georg Trakl: Gedichte
Die Wasserfrau. Von geheimen Sehnsüchten und Ungeheuern mit Namen Hans , hrsg. von Hanna Moog
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands

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