BRIEFWECHSEL EINER MELUSINE MIT A.N.HERBST (Teil 2)


TEIL 1 DES BRIEFWECHSEL: HIER

A.N. Herbst am 23.02. 2010
Liebe Melusine, ich hatte versucht,
Ihnen zu antworten, dann kam so vieles dazwischen, daß erstmal nur ein Entwurf liegenblieb. Nicht das aber hielt mich ab, ihn fertigzustellen, sondern etwas, das ich, wenn auch schon recht scharf formuliert, im letzten Eintrag meines heutigen... ach, jetzt bereits Arbeitsjournals von gestern doch immer noch nur angedeutet habe.

Ich will versuchen, meine Antwort morgen, also heute fertigzustellen. Ich möchte sie nicht einfach nur dahintippen... Auch in Zeiten des Kampfes, vielleicht gerade in ihnen, muß Zeit für die Schönheit sein.
Ihr ANH

Über den „Kampf“, in dem er steckte, weiß ich nichts Genaues. Ich nehme an, dass es mit Äußerungen Herta Müllers über Peter Grosz zu tun hatte. Aber das ist wirklich nur eine Vermutung. Auch das lernte ich: dass er manches andeutete, auch in Aussicht stellte, es aufzudecken, es aber später völlig aus dem Blickfeld verschwand, scheinbar, jedoch unerwartet wieder Bedeutung gewinnen konnte.

A.N Herbst am 26.02.2010
Liebe Melusine, es gibt keine Gründe: zu klagen -
wohl aber Gründe für Klagen. Dies kleine Wortspiel umschreibt ganz gut meine eigene Haltung gegenüber Kulturpessimisten, ja gegenüber Pessimisten überhaupt und gilt unbedingt, sofern diese nicht, das schrieb ich schon in einem vorigen Brief, von Schicksalsschlägen gezeichnet sind, derer es sich de facto nicht erwehren ließ; es gilt also nicht gegenüber geschundenen Leuten aus Lagern, gegenüber als Kinder schwer Mißbrauchten, gegenüber Krebskranken usw. Debatten hingegen um Achtstunden- meinetwegen Zwölfstundentage usw halte ich für so lächerlich wie es auch Aufregungen über ein angeblich schlechtes Schulsystem sind. Wer lernen w i l l, der lernt und erboxt sich auch in autoritäreren Strukturen als die unseren sind, was er will. Man hat ja hierzulande manchmal den Eindruck, man müsse die Menschen verführen, daß sie sich bilden... ja manipulieren müsse man sie. Meine Haltung ist da entschieden: dann sollnse halt doof bleiben. Und all die Pessimisten ohne Not: jessas, wenn einer dauernd so übers Leben klagt, weshalb geht er dann nicht? Wir alle haben die Wahl. Wobei dieses „ich habe eine Beziehung mit Corinna” auch überhaupt nichts sagt, außer, daß man eine irre Angst vor dem Pathos hat, ohne das aber Liebe gar nicht möglich ist. Was soll eine profanierte Liebe denn sein? Eben, Beziehung - nur daß ich „Beziehungen” auch zu meinem Bäcker habe, zur Berliner Straßenreinigung, zum Postboten und meiner Hausverwaltung. D a wäre es in der Tat zuviel verlangt, es wohne Poesie dem inne.

Das zu d e m Komplex.
Das Nächste nun zu der Muse:

Unterwarf sie sich je? Sicher nicht. Sie war bei den Troubadours die Unerreichbare, und das blieb sie auch als Prostittuierte. Wenn Sie Bretons Nadja lesen und Arbeiten Louis Aragons aus der Zeit, es ist die n a c h dem Fin de Siècle, werden Sie spüren, wie auch durch die Käufliche so etwas wie Unantastbarkeit strahlt. In der großen Camille Paglias Buch „Die Masken der Sexalität” gibt es eine Betrachtung des Striptease, die mit dem Satz endet (ich zitiere aus der Erinnerung, habe das Buch jetzt nicht hier; bin grad in Frankfurtmain): „Noch die nackte Tänzerin nimmt eine letzte Verschwiegenheit, ein letztes Geheimnis mit sich heraus.” Wobei Muse, pragmatisch gesprochen, erst einmal Projektion ist; deshalb läßt sich das so gut spiegeln; unpragmatisch gesprochen, könnte da etwas sein, das ihr „eigentlich” äußerlich ist, aber in sie hineinschlüpft und sich in ihr realisiert, und zwar egal, ob sie das will oder nicht, egal, ob sie sich ihrem Künstler „hingegibt” oder er sie, in einem männlichen Bemächtigungsakt, „nimmt”. Was Sie über Wilhelm Meister schreiben, sagt ja doch, daß er gar keine Muse h a t, sondern das, jetzt muß ich lachen, „Musige” gerade abwehrt, also das Musische, indem er meint und versucht, es zu domestizieren.
Ja, sicher ist auch das Netz, insoweit in ihm Poesie versucht wird, ein Tanzplatz der Musen; ich denke, das Medium ist da ganz ohne Bedeutung. Indes die Trennung zwischen verschiedenen Schreibformen in allererster Linie eine pure Frage des Handwerks ist. Dieses erhalten wir n i c h t von den Musen, das ist einfach nur Arbeit, Lernen, Basteln, Lernen, Experimentieren, Lernen, auch Auswendiglernen, sich trainieren usw. Die Muse sorgt für das, was – und ob etwas – darüber hinausgeht.

Nachgeklungen hat in mir, und er klingt immer noch nach, Ihr Satz „aber ich verberg´ es gut. sie würden keinen finden, der es glaubte”. Das ist ja schon fast eine Geschichte... keine neue, denken Sie an „Belle de jour”, aber eine, die weder je ihren Reiz verloren hat noch daß sie ihre Bedeutng verloren hätte. Ich denke manchmal, es ist sogar ein Prinzip – ein sehr weibliches im übrigen, wenn wir unter „weiblich” verstehen, wozu diese eigenartige Mischung aus Unterdrückung der Frau und heimlich, und zwar bis heute, durchgehaltenem Matriarchat geführt hat.

…. später, nämlich nachmittags: Tropen, Papageienschreie, Kaimane...-:

„- es ist dies unterwasserleben” schreiben Sie. Auch ich jetzt schreibe unter einer Art Wasser (15.56 Uhr), das unentwegt von oben auf mich sprühfein hinuntergeht; mein Laptop, wäre er, wie ich wollte: organisch, dankte es mir. Das wird er selbstverständlich n i c h t tun. Also halte ich es mit dem „Vertrag”, aber wissen Sie: - eben darum, weil ich glaube, daß die, die führen, längst vergessen haben, man folge nur Zwecken; sie selbst halten die Verträge unterdessen für Ontologie und haben sie selbst an einer Stelle unterschrieben, die dem Vertragsnehmer zugedacht ist. Und auch bei Buddenbrooks und Oper täuschen Sie sich, glaube ich. Es sind nur noch wenige Führungspersonen, die in die Oper gehen, die meisten, indeed, gehen zu Madonna; man vergißt immer schnell den Generationenwechsel, gerade auch ablesbar an Veröffentlichungen aus Kulturredaktionen. Machen Sie sich einfach bewußt, daß Kulturberater Gerhard Schröders zu seinen Kanzlerzeiten Müller-Westernhagen gewesen ist, nicht etwa Daniel Barenboim oder gar Helmut Lachenmann. Die meisten Machtmanager dieser Republik werden von denen allenfalls mal gelesen haben, von Lachenmann wahrscheinlich nicht mal das.

Ich finde aber, es wird jetzt Zeit für die Männerkörper. Sie dürfen auch gerne Flossen haben. Wobei mir Ihr Abschlußsatz durch- und durchging.

ANH,
dessen Antwort nun d o c h etwas länger gebraucht hat, um formuliert zu sein. 

Diesen letzten Brief schrieb er an einem verregneten Tag in Frankfurt. Ich stelle mir vor, dass er über die Zeil streifte und schließlich im Zoo, im Tropenhaus, landete: Kormorane, Papageien... Aber vielleicht träumte er das auch nur.

Mit der Antwort ließ sie sich diesmal Zeit. Das hatte Gründe. Sie fürchtete, sich zu enttarnen. Dann fühlte sie sich wieder sicher und schrieb:

Melusine am 03.03.2010
Vom SEE
Lieber Herr Herbst,

Sie sahen die Gründe auf dem Grunde des Sees – und haben Recht: keine Gründe zu klagen. Wohl aber für den Klagegesang der Weiber...

Und: Haken wir „Beziehungen“ ab! Es gilt: keine zu unterhalten. Unterhalten wir uns. Prodesse et delectare. Doch haben wir uns – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – von d i e s e r AUFKLÄRUNG recht weit entfernt. Nur gegen sich selbst gewendet kann sie – wie stets – gerettet werden. Lassen wir die Vernunft schlafen – und (von uns?) träumen..

Fast, nur fast verursachten Sie mir - „Komplexe“, mein Lieber, wenn Sie mich fragen: „Unterwarf sie sich je?“ (Es geht um die Muse, erinnern Sie sich?) Schrieb ich denn, dass sie sich IHM unterwarf? Sie unterwarf sich, schrieb und meinte ich, seinem GESANG. Und was ist denn der Gesang, das Lied, der Text anderes als ihrer beider gemeinsames Kind. Dem, entstanden aus jener göttlichen Zeugung, gibt sie sich - in der Tat - hin. Auf dessen kleinste Regungen lauscht sie, sachte glättet sie die Decke, in die beide es hüllten, verleiht mit ihrem Lächeln dem Kinde die Gewissheit der Liebe, mit der es hinaustritt in eine – nicht selten feindliche - Welt. So kann es bestehen. Oder zumindest darauf hoffen. Des Vaters Stolz hingegen teilt sie nicht. Sie tritt zurück, um in ihrem Reich wieder zu herrschen. ER hingegen prägt dem Kinde seinen Namen auf. („Der Vater ist immer unsicher“, wispern die Alten.)

Dies Bild ist nicht originell, beileibe nicht. Entworfen hab´ ich´s wie eine „Neue Melusine“, die mit gewaltiger Sanftmut das Ungebärdige sich gefügig zu machen sucht. In Wahrheit aber lässt sich der MUTTERMORD, den ich hier so zart verbarg, nicht umgehen. Hören Sie diesen Gewährsmann zum „Gebrauch der Musen“:„Die Schöpfung nämlich gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. Nicht seiner Weiblichkeit nach, in der sie empfangen wurde, sondern an seinem männlichen Element. Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschoßes empfing, wird er nun einem helleren Reich zu danken haben. Nicht wo er geboren wurde ist seine Heimat, sondern er kommt zur Welt, wo seine Heimat ist. Er ist der männliche Erstgeborene des Werkes, das er einstmals empfangen hatte.“ (Walter Benjamin, Denkbilder)

(Ihnen – übrigens – danke ich, ganz ohne Ironie, sondern aus vollem Herzen, dass Sie immerhin das andere „hellere Reich“ nicht schlicht der „dunklen Tiefe des Schoßes“ gegenüber stellen, sondern seine ganze Obszönität in grellem Neonlicht ausleuchten. So les´ ich Ihre Texte. Und daher schätze ich sie.)

Gleichviel: Soll das „Werk“ entstehen, so muss sein Schöpfer, sich in der Vereinigung mit der Muse ein Weibliches einverleiben mit dem er forthin – ohne dunklen Mutterschoß – zeugen kann. Und die Mütter? Verbannt in die Tiefen, ins dunkle Reich. So weit hinunter steigt kaum einer mehr. Goethe wusste darum. Sein „Wilhelm Meister“ nicht. Freut mich, dass Sie über ihn lachen müssen. Kaum einer tut´s, dabei ist´s die einzig´ angemessene Reaktion auf diesen entsagenden Toren (und sein domestiziertes, sinn(en)-entleertes ideales Frauenbild, die blutleere Natalie).

Es bleibt aber dabei: Wer schöpfen will, der braucht jenes Andere, der muss in einem gewaltsam-zärtlichen Akt sich das Gegengeschlecht einverleiben. „Die Muse“, schreiben Sie, „sorgt für das, was – und ob etwas – darüber hinausgeht.“ (über das Handwerk). D A S also verdankt sich, folgten Sie mir, der Erledigung (Entledigung?) der Mutter mit dem „dunklen Schoß“.

(Werden Sie nicht ungeduldig – ich komme noch zu den Männerkörpern...)

Wie aber soll und kann jetzt eine vorgehen, die selbst mit solchem „dunklen Schoß“ versehen ist? Der fehlt ein Anderes. Männliche Musen. VATER – Stellvertreter. Mordopfer-Kandidaten. (Sehen Sie, ich halt´ meine Versprechen. Schon bin ich da – bei den Männerkörpern!) Was nun? (Kennen Sie männliche Musen? Ich stellte die gleiche Frage neulich einem Freund und spontan nannte er Frida Kahlos Diego Rivera – Da materialisiert sich das Thema: Schauen Sie ihn an und erklären Sie mir, wie aus dem Blick auf diesen Körper Schönheitsfunken schlagen sollen... Nun, das ist jetzt ein bisschen böse. Ich will mich bessern!) Selbst wenn es hinreichend Kandidaten gäbe (und Schöne dazu), hülfe es nicht, wenn der, die´s betrifft, jeder Zug zur Domina fehlte. So kann die sich das männliche Element nicht einverleiben.

Daher: Ein Männliches entsteht in ihr, wo diese Frau sich einem Mann in seiner Schwäche leiht. Wie ein Mann neben und hinter ihm steht. Oder alleine bleibt (haben Sie bemerkt, wie viele große Dichterinnen Tanten sind und keine Mütter?) Und so erklärt sich auch, warum es keine (oder kaum) Magazine für Frauen gibt, auf deren Titeln moderne Davids zu sehen wären, in ihrer strahlenden unversehrten Schönheit. Es richtet sich auf solche Vollkommenheit kaum das Begehren. Den ganzen Körper einer Frau werde ich immer mehr würdigen als den eines jeden Mannes. Am männlichen Körper dagegen entzündet sich das Begehren am Kontrast zwischen Kraft und Versehrung. Eine kleine Wunde, eine Narbe, eine Unvollkommenheit, deren Berührung ersehnt wird. Oder den Ausschnitt, den Torso, dessen sehnige Muskeln aufs Ganze verweisen, ohne es zu sein. Eine mit zartem Haar beflaumte, doch kräftige Hand auf einer Sessellehne, lässig aufgelehnt. Die Betrachtung könnte das Blut in die Wangen steigen lassen. Nicht aber (wie es einer Freundin einmal geschah), wenn der Geliebte in völliger Nacktheit -am besten in Yoga-Baumhaltung -erwartungsfroh im Türrahmen steht.

Das ewige Matriarchat, von dem Sie schreiben, ich glaub´ hierin liegt seine Macht: dass kein Mann über das Begehren einer Frau verfügt, sondern es als Gnade erfährt. Sie erschaut in ihm, was ihn begehrenswert macht. (Männer dagegen scheinen doch sehr ausgeliefert an die „Primärreize“, denen sie triebhaft verfallen – doch sicher lässt sich da auch einiges kultivieren...)

Für das Kunst-Kind indes, das aus der Vereinigung mit einer männlichen Muse entstehen könnte, gelten andere Bedingungen: kein Vater wird ihm den Namen aufprägen, keine Mutter ihm eine liebendes Lächeln mit auf den Weg geben. Es ist ein Kind der Gnade und Sie werden – denke ich – öfter sehen, dass es eine Versöhnung erstrebt zwischen Leben und Kunst, dass es sich nicht auf- und ausstellt, sondern verströmt. Darin liegt eine Gefahr. Es könnte untergehen.
Doch, Gott sei Dank, hier gelten keine Regeln. Und es kann auch ganz anderes entstehen. (Und´s andere Frauen geben, wie´s andere Männer gibt.)

Die wenig neue Geschichte, die Sie sich für mich (und meine Besessenheit) ersinnen, sollten Sie nicht glauben. Ich werde hier nichts zu Ihrer Aufklärung beitragen. Nur soviel: Ich entblöße mich n i e, allenfalls lasse ich mich entkleiden.

Ich grüße Sie, atmen Sie tief durch, legen Sie eine eiserne Lunge an und tauchen Sie tief.

Ihre Melusine 

Seine nächste Antwort, die sehr rasch kam, erstaunte sie. Er hatte den ersten Text im Netz gefunden, den sie eingestellt hatte. Doch fand sie eigentümlich, welche Zeile er aus diesem Brief als erste herausgriff, ausgerechnet. Auch fühlte sie, ohne es zu begreifen, dass er verstimmt war. (Das meine ich auch jetzt noch zu spüren, wenn ich den Brief lese, noch immer ohne den Grund zu verstehen.)

A.N. Herbst am 03.03.2010
Liebe Melusine, Sie schreiben „nicht aber, wenn der Geliebte in völliger Nacktheit im Türrahmen steht”,

wobei ich nicht weiß und es mir dezentermaßen auch nicht ergooglen möchte, was denn eine Yoga-Baumhaltung sei, so daß ich nur hoffen kann, sie lasse das Glied da nicht tun, was es eben nicht sollte in solcher Situation... Sei’s drum. Ich halte dagegen, daß ein durchgebildeter Männerkörper, sieht man ihn von hinten, allemal schöner ist als i r g e n d einer einer Frau. Gefahrlos darf ich dies schreiben, da mir homoerotische Neigungen weitestgehend abgehen; das hindert ja nicht den ästhetischen Blick. Und hat nicht Ihre parzellierte, ja parzellierende Sehensweise ebenfalls etwas vom männlichen Gebanntsein durch Primärreize, zumal es um deren Kraft s o uneingeschränkt auch nicht gut bestellt ist? Was etwa soll mir eine abgetrennte weibliche Brust, und wäre sie noch so vollkommen? Gewiß, im Katholizismus, zu denken an Agathe, hat sie Fetischcharakter angenommen, aber kann sie, auf einer Tafel serviert, Erektionen befördern? Mitnichten, Melusine. Auch gibt es Frauen, die eine Schulterbeuge haben, an denen man Atemnot vor Lust bekäme, wäre da nicht... ach, wäre da nicht das mißglückte Gesicht, welches ich, wenn es geglückt ist, für das Aphrodisiakum-schlechthin halte, ganz schnell gefolgt von schmalen Hälsen, Füßen und Händen mit jenem Perlmuttlack, den nur Banausen „Nägel” nennen, weil Banausen Banausen eben sind. 
Aber schreiten wir auf den Körpern nur weiter. Es gibt auch schöne Mösen, das Chthonische legt sich die Sanftheit eines sich spaltenden Vordrängens um, je klarer der Spalt, desto entschiedener ist sein Sog. Und der Gestaltreichtum der Schwänze, in diesem Fall ist Phalli das treffende Wort, gleicht dem der übrigen Botanik; es gibt Stinkmorscheln darunter, indessen Schwertlilien a u c h – ganz unabhängig von Volumina und „Längen” und also anders, als es ein bedrückendes Einschüchtern noch heute den jungen Mann glauben lassen will. Wer jemals eine Frau sagen hörte, daß „er” und w i e schön „er” sei, weiß, was ich meine. Es gibt Frauen, die von „perfekten Hoden” sprechen, womit sie eben nicht Funktionalität meinen, sondern sie treffen ein ästhetisches Urteil, eines über Kunst: nicht anders bewundert man die malerische Größe eines Faltenwurfes, etwa bei den Flamen. Nein, Melusine, auch ein Männerkörper kann in seiner Gesamtheit zum Verfallen schön sein, ohne aber notwendigerweise Erregung auszulösen, zu der es, wie bei dem Frauenkörper, seelischer und pheromonaler Wirkstoffe bedarf. Wir Männer stehen auch nicht vor  ihr, die man IHr schreiben muß, erigiert. Ohnedies ist da ein selten benanntes Geheimnis um die Erregung von Männern: um sie, allerdings nur kurz, zu erlangen, bedarf es keines guten Aussehens, sondern der Situationen, oft solcher, in denen Macht und Übertretung ineins gehn, beidseits; für das genetische Programm ist das genug. Prodesse et delectare wäre vielleicht auch hier anzuwenden, wenn auch aus Sicht der Art in umgekehrter Reihenfolge. Da haben Sie also ganz recht: Ich stelle ein angeblich „helles” männliches Prinzip, in das „wir” erlöst würden - auch nach dem Wir wären Anführungsstriche zu setzen -, einem vorgeblich „dunklen” Weiblichen nicht entgegen, ich halte auch wenig vom „dunklen Schoß”; wer in die Samenröhre kröche, hätte es gleichfalls nicht hell. Dennoch bleibt ein Geheimnis, das alle Chirurgie nicht öffnet, noch daß es das sezierte; in meinen  Elegien schrieb ich darüber so:
Berührten wir Dich, wir entweihten unser, der Männer, Geheimnis: ein schales, nicht dunkles Mysterium. Deshalb nur lassen wir Dich in der selbstherrlich bitteren Blüte so stehn und umschwirrn Dich wie Flügler, die wissen und Vorsicht, äußerste, wahren vorm Licht. Aus Notwehr er­stand unser Geist und nimmt jetzt den Meißel und haut Dich in Stein.
Es ist ein Geheimnis auch, daß die, die es tragen, es längst nicht mehr wissen, oder doch nur wenige wissen es. In Pynchons Gravity’s Rainbow geht der Erzähler darauf ein:
Die Mütter (...) hängen über das Kinderkriegen einen Schleier des Geheimnisvollen. (...) Die Wahrheit ist, daß sie nicht wissen, was in ihnen vorgeht; (...) dieselben Kräfte, die den Bomben ihren Weg vorschreiben, den Tod von Sternen befehlen, die Wind und Wolkenbrüche lenken, haben sich auf irgendeine Stelle in ihrem Becken gerichtet, ohne ihre Zustimmung, um wieder ein bedeutendes Zufallsereignis herbeizuführen.
Dieselben Kräfte... zu denen auch das gehört, was Sie „Obszönitäten” nennen, was aber ich den Mysterien zuschlage. Obszön sind für mich korrupte Menschen, obszön ist die Bigotterie, nicht aber welche wie auch immer schäumende Lüsternheit; a l l e Lüsternheit hat etwas von dem Wahnsinn, der nicht den uninteressantesten Kulturen seit jeher heilig war. Noch unsere Marienprozessionen gehen auf Dionysos zurück, freilich von einem Patriarchat gebunden, das Entgrenzung auf keinen Fall zulassen mag.

Da sind wir dann bei den M(el)us(in)en, aber Sie fragen um ein Feld, über das ich mir in meiner männlich-machistischen Begrenztheit nie einen Gedanken machte: wer ist die Muse einer Frau, der – die Komik hebt ja d a schon den Finger: – Muserich? - Ich weiß es nicht. Es fällt mir schwer, mich in jemanden einzufühlen, die einmal monatlich blutet, geschweige in eine, die zumindest prinzipiell, in den meisten Fällen aber tatsächlich zum bergenden Körper eines anderen Ichs wird, und zwar oft mehrmals; will sagen: ich glaube nicht einmal, daß solch eine Einfühlung möglich ist. Deshalb kann ich Ihnen zu männlichen Musen nichts sagen; sie klingen schon devot, was für mich, einen sehr gerichteten Spezialfall, schon dann kaum erträglich ist, wenn ich solche Männer sehe. Ich halte Geschlechterindifferenz für eine Lüge, die mit sexueller Schwäche bestraft wird, zumindest werden die Himmel- und Höllenkreise nicht ausgeschritten – in Ihrer Sprache: man schwimmt auf der Oberfläche und taucht nicht. Da müssen die Melusinen hinauf, anstatt daß sie einer unten wegraubt (die Ähnlichkeit von Raub und rape ist mir nicht erst seit den Sabinerinnen bekannt).
Ich müßte also fantasieren. Meine Form der Erkenntnisfindung geht nahezu immer so: Wenn ich etwas verstehen will, schreibe ich eine Geschichte, die in sich stimmt. Aus ihr lese ich die Ergebnisse ab. Das bedeutet, daß ich an die ästhetische Wahrheitsfindung glaube; sie hat sich oft auch als praktisch erwiesen, als praktikabel nämlich. Ich probiere derlei ja aus. Also ich denke, daß auch die Damen mit Domina-Zügen schwerlich eine (!) Muse in der weichen Männlichkeit finden; w e n n es um Einverleibung des Männlichen geht, dann eben des Männlichen, also des Männlichen-als-Idee-und-Innenbild - wobei es klar ist, daß wir die „reinen” Formen ohnedies nicht finden. Mir selbst, der eine starke Neigung zu erotisch devoten Frauen hat, die dennoch fordern, wäre eine auch in allen übrigen Lebensbelangen devote Frau ausgesprochen unangenehm: ich finde Heimchen nicht begehrenswert. Erotische Devotheit schließt Selbstbewußtheit und Stärke nicht aus, ja wird überhaupt erst durch die Differenz berauschend. Deshalb glaube ich n i c h t, daß in der Frau das Männliche entstehe, wenn sie sich, wie Sie schreiben, einem Mann in seiner Schwäche leihe; in der Szene nennte man sowas „topping from the bottom”; das funktioniert wirklich nur bei Schein-Dominanten und ist meiner Erfahrung nach agierender Notwehr verdankt, die sich eine Stärke doch wenigstens auf ein Objekt projezieren will; wenn sie so wollen: ein Akt bewußter Selbsttäuschung. Wie ich auch meine, daß das Problem moderner Davids in ihrem Schwulsein begründet ist, nicht etwa in einem Mangel an männlichen Schönheiten, die zugleich das Bedürfnis nach der Wunde befrieden. Der narbige Krieger, ich weiß schon, der Schnitt über einer Braue, gewisse Asymmetrien. So schreibt Poe aber auch über weibliche Schönheit: es gebe keine erstrangige ohne eine gewisse Unverhältnismäßigkeit in ihren Proportionen. Ich weiß auch aus eigenem Erleben: Zahnlücke, verschieden große Ohren, Narben, ja... nichts zerstört die männliche Schönheit so sehr wie Zahnspangen. Und wen wir bei alle diesem vergessen nicht dürfen, ist e r, der Vater. Sie deuteten schon an. Aber ihm, vielleicht, gelte, umfangshalber, ein nächster Brief. Und dann, Neue Melusine, möcht ich doch gegenfragen, ob nicht auch sie, die Frau, männliches Begehren als Gnade erfährt; darüber frei verfügen, allenfalls, kann sie e i n Mal; danach, wenn sie es nicht anderweitig bindet, wird er das nächste Wild erwittern. Was nun aber Ihre Entblößung anbelangt, so besteht die eigentliche Kunst des Verführens darin, die Frau, die sich von ihm entkleiden l ä ß t, so zu entkleiden, daß er nicht eine Hand rührt und kaum einmal ein Lid.

Auf dem Weg hinauf zum Wasserspiegel:


Ihr 
ANH

Der Brief schlug Themen an, die sie von nun an umkreisten: die Mütter, den Vater, die Musen der Dichter und die Einsamkeit der Dichterinnen. Aber – im Rückblick lese ich das so – sie achten sorgsam darauf, den Kern n i c h t zu spalten, den Strahl des Dialogs auf einer Umlaufbahn zu halten. Beide.