BRIEFWECHSEL EINER MELUSINE MIT ANH (TEIL3)


Fortsetzung des „Briefwechsels einer Melusine mit ANH Teil 1“ und „Teil 2

Danach tummelten sich unter dem Melusinen-Namen einige in den Dschungel-Gewässern. So registrierte sie sich als „MelusineB“ – B.  für Barby – Fontane und die Puppe. Das passte.  Ihr nächster Brief galt der

VERMEIDUNG DER ENTKLEIDUNG

Melusine an ANH  am 3.06.2010
Lieber Herbst (ich lasse den „Herrn“ weg und hoffe so teilzuhaben an Ihrem Frühling – der sich aber, wie ich höre, verspätet...)

wie schwer Sie es mir machen, diesmal zu antworten. Absichtsvoll versuchen Sie mit Ihrer Antwort mich so zu verführen, dass ich mich doch entblöße bzw. Sie mich – ohne sich zu rühren – entkleiden können. Dagegen werde ich mich – verteidigen. Und: ein wenig bewegten SIE sich doch. Das wird ein Tanz. Ich will versuchen, die Figuren so auszuführen, dass ich Ihnen nahe komme und doch immer a n g e z o g e n bleibe. Verstehen Sie?

Ihr Anfang wunderte mich – dass Sie gerade diese Stelle herausgriffen, um mir so – vorgeblich nonchalant - zu widersprechen: „Sei´s drum. Ich halte dagegen...“ Was störte Sie, dachte ich, an der „völligen Nacktheit im Türrahmen“ (und der Yoga-Baumhaltung, die Ihre Schamhaftigkeit hervortrieb)? Etwa die „Fülligkeit“, die der Klang des Wortes „völlig“ evoziert (bei mir zumindest, aber ich kenne d e n Mann auch)? Ich glaube nicht. Sie wollten mir durchaus einen „durchgebildeten Männerkörper“ vorstellen. Oder hätten gewünscht, dass ich ihn mir vorstelle... War es das? Ich habe noch einen anderen Verdacht, der aber weit hergeholt ist und den ich daher (noch?) nicht äußern werde. „Gefahrlos“ dürften Sie von den Männerkörpern mir schwärmen, schrieben Sie, da Ihnen homoerotische Neigungen fremd seien. Nun, Sie dürften mir das auch schreiben, wenn die Ihnen bekannt wären! M i r sind sie – bekannt (doch – bisher - nur die „Neigungen“).

Immerhin führt uns dies zu einer wichtigen Unterscheidung: der begehrende und begehrliche Blick und die Schau der Schönheit sind n i c h t identisch. M i r wird indessen immer die Vorder- oder Rückenansicht i r g e n d e i n e r Frau schöner erscheinen, als die eines – wie immer durchgebildeten – Mannes. Dass es so ist, halte ich für eine – durchaus nicht seltene – Deformation des weiblichen Blickes in unserer Kultur: dass wir „geschult“ sind, die Schönheit eines Frauenkörpers zu e r k e n n e n, die eines Davids aber ausschließlich Winckelmanns Homoerotik zuschlagen. Sie, scheint es, sind von dieser Deformation frei – oder doch nicht, da Sie sich so sehr gegen alle Homoerotik abgrenzen.
Ich jedenfalls kann den Anblick einer schönen Frau mehr genießen, als den eines schönen – Mannes. Wer, welcher Mann, ist so schön wie – sagen wir – Penelope Cruz? Ich kann aber auch, beim Schauen auf eine Frau i n B e w e g u n g ganz flirrig werden vor Begehren. Ach, eine Frau zusammengerollt in einem Sessel, die sich entrollt und ausstreckt... Und entblößte Schulterbeugen, ja...

Aber Recht haben Sie, dass die „parzellierende Sichtweise“, die Zerstückelung der Körper, an der sich mein Begehren des Mannes entzündet, dem Objekt der Begierde ein Unrecht tut. Kann es je anders sein? Was ich meine, ist: Gibt es einen begehrenden Blick jenseits der Pornographie? Schönheit allerdings entsteht so nicht, das stimmt. Die erkenne ich am Mann – mehr noch als bei Frauen - überhaupt erst in der Bewegung. Grazie. Bei Männern ist Grazie verhaltene Kraft, Verzögerung, Anspannung – Sprung. Keine stampfenden Fußballerwaden (obwohl auch hier manche gefallen können). Auch in den Gesichtern geht es weniger um die ebenmäßigen Züge, denn um die Mimik, die entzücken kann. Eine Falte über der Stirn, ein schief gezogener Mund...Und selbst Cary Grant wäre nichts ohne die Grube in seinem Kinn...Aber auch hier: Es ist selten das ganze Gesicht, dem ich verfalle. Die Augen sind es – zuerst.
Von Mösen - weiß ICH nichts, ich haben, denken Sie bloß, noch keine g e s e h e n – s o gesehen. Schwänze – jetzt komme ich dahin, wo ich meine, dass Sie mir böse sind (weil Sie´s schon ahnten) oder werden. Sie verachten, weiß ich, die Prüderie. Bin ich prüde? Weil ich über Schwänze nicht r e d e? Keine Angst habe ich vor Nacktheit, auch stört mich in der Öffentlichkeit das Sprechen über Schwänze, Mösen und Ficken nicht. Dagegen vermeide ich das Reden darüber, wo ich intim bin. Das heißt: Ich bin nicht prüde mit geschürzten Lippen, sondern: mit offenem Mund.
(Das wirft – für mich – die Frage auf, wie ich HIER schreibe: öffentlich oder intim. Eine seltsame Form ist das: Was wir hier schreiben, schreiben wir einander und doch nicht einander, sondern all denen, die es lesen (wollen). Und können es doch nur schreiben (zumindest gilt dies für mich), weil es gerichtet ist – an EINEN. – Ich kehre mit dieser Überlegung - merken Sie´s – an den Ausgangspunkt unserer Korrespondenz zurück. Und entdecke eine neue Dimension... Sie haben Erfahrung mit dieser Form, ja es ist wohl die Ihre. Ich muss lernen und üben... Wir werden sehen.)

Recht gebe ich Ihnen, dass es die Mysterien sind, die aller Kunst erst den Zauber verleihen. Und im tiefsten Grunde bleibt es wohl unsere Sexualität aus der sich alle Mysterien nähren. Dass sie nicht bloß Zeugungstrieb ist und auch als solcher uns u n b e g r e i f l i c h bleibt, treibt uns dazu, den Meißel in die Hand zu nehmen und den Stein zu behauen. – Doch das „uns“ ist falsch. ER nimmt den Meißel und haut SIE (in den Stein). Das Bild ist gut, weil es die Gewalt offenbart, die hier geschieht. Auch Frauen aber, wie Sie Pynchon zitierend zeigen, bleiben sich hierin fremd und manche wollen der Fremdheit Ausdruck verleihen. Doch haben sie oft keinen Meißel zur Hand und wenn doch, dann kein DU, das sich meißeln lässt. „Muse-rich“ – in der Tat – wer könnte sich an so einem entzünden. (Ich musste gleich an Unkerich aus der Lurchi-Serie von Salamander denken und der könnte unerotischer kaum sein. Aber nett!) Der Gedanke, dass eine Frau eine Entsprechung zur Muse ersehnen könnte, kam Ihnen wirklich nie?
„Ich weiß es nicht.“ – schreiben Sie. So geht´s mir auch. Ich verstehe Ihre Einwände gegen das Bild, das ich – hilfsweise – entwarf: die Verleihung an seine Schwäche. Nein, das geht wirklich nicht. (By the way: Was heißt denn hier „topping from the bottom”? – Da ich d i e Szene nicht kenne.) Es geht überhaupt nicht. Ich verstehe jetzt, dass auch einer Frau als Muse nur eine Frau taugt. Eigentlich habe ich´s immer gewusst. Meine Schwester...
Vielleicht braucht eine Frau ein Männliches nicht, um zu schöpfen. Oder sie hat es immer schon, als mögliche Mutter eines Sohnes? Ein gefährliches Gebiet, das ich diesmal nur streifen will. Wie auch die Väter. Ich hatte dazu etwas geschrieben, doch ist es – Ihrer Lockung folgend – ent-blößend geworden und daher lass ich es weg. Diesmal. Und schreib es anders. Ein nächstes Mal.
Unsere Erfahrungen, stelle ich fest, sind nicht nur im Umfang sehr von einander unterschieden. Ich räume ohne weiteres ein, dass die Ihren an Zahl und Formenvielfalt die meinen sicher weit übertreffen – doch sehen Sie: Ich habe Gnade nie gebraucht. Wer e i n Mal mich wollte, der wollte mich – nachher - nicht mehr gehen lassen.
Schreiben Sie mir über „Situationen, ..., in denen Macht und Übertretung ineins gehen“. Das interessiert mich. Raub, rape, rapture...
Liebe Grüße von DRUNTEN
Melusine 

Darauf antwortete er:

ANH an Melusine am 9.03.2010
Liebe Melusine, „ohne sich zu rühren”, also
mich zu rühren, können Sie nicht meinen! Wir rühren uns hier beide, allein, indem wir schreiben; ich rührte mich doch nur dann nicht, ließe ich alleine Sie die Konversation weiterführen. Und wirklich, Sie schränkten das schon ein mit Ihrem „ein wenig”, was mir dennoch ein wenig zu wenig Einschränkung ist.

Was mich an der Yoga-Tür störte? An sich wollte ich das Bild, das mir vor Augen stand, nicht deutlicher zeigen, allein der Komik wegen, die in der Andeutung liegt; überspannt man sie, wird es zotig oder albern. Nein nein, an einen „vollschlanken” Herrn dachte ich mitnichten, vielmehr an die Gravitation und was sie bei auf dem Kopf stehenden Männern falsch bewirkt. Diese Art der Bekleidung müssen Sie auch mir zugestehen, wenigstens einstweilen, um einen späteren, selbstverständlich sittlichen Tauchgang (Badehose, Schwimmflossen, Taucherbrille und Schnorchel) nicht ganz auszuschließen. Ich bin fast prinzipiell gegen Ausschlüsse, auch wenn ich mich gern dazu hinreißen lasse, die Regeln des Standardtanzes zu befolgen, welche Sie bekleidet lassen.

Ich ginge, grenzte ich mich von der Homoerotik nicht ab, einen schwierigen Weg; wo ich dies nämlich n i c h t tat, gab es immer wieder berufliche Konflikte; außerdem gefällt mir meine männliche Homophobie schon deshalb, weil das Gegenteil so modern wurde, man hat als Schwulenfreund so z u sehr das Gefühl, Teil eines großen aufgeklärten Ganzen zu sein. Ich mag auch einem Ball nicht hinterherrennen, wenn das schon neun andere tun und die zehn der Gegenseite, und außenrum sitzen Horden aus Flachmann, Bierdunst und Fleischwurst, die alle laut johlen... Will sagen: wenn etwas so sehr allgemein ist, so „in” ist, dann habe ich den Instinkt, daß etwas nicht damit stimmt und man gut daran tut, auf Distanz zu gehen. Das sollte man zu j e d e r Massenbewegung, es ist völlig wurscht, ob sie links, linksliberal, konservativ, rechts ist. Das ist ja der Vorteil an allem Elitären: daß es zur Massenbewegung nicht taugt, also auch nicht zur Bewegung von Massen. Womit ich schon bei Frau Cruz bin, die, obwohl dunkelhaariger südlicher Typus, ich als Venus nicht ansehen kann; da ist etwas Primitives an ihr, etwas Grobes, das das Bild sehr stört, ein Mangel an ausgefeiltem Character – wohlgemerkt, bitte, ich spreche von ihr als Bild, nicht persönlich, die ich auch gar nicht kenne; mein persönlicher Umgang mit Stars ist ausgesprochen begrenzt. Doch wenn schon, dann hielte ich Frau Cruz entschieden Frau Schneider entgegen, Romy Schneider, auch und besonders Charlotte Rampling, Stéphane Audran, unter den Blondinen vor allem Lauren Bacall, stark auch die Béart aus La Belle Noiseuse und vor allem aus Vinyan; ihr habe ich sogar begonnen, >>>> einen Gedichtzyklus zu schreiben. Ich mochte die Maruschka Detmers von „Teufel im Leib” und wie Godard sie in „Prénom Carmen” in Szene setzte. Auch der spitzigen Perversion Nastassja Kinskis, nicht der Kind- sondern der unterdessen reifen Frau (ich spreche weiterhin von der Erscheinung, nicht dem, was jemand „wirklich” sei), gewinne ich einiges ab, das nicht ohne Gefahr ist. Frau Cruz dagegen ist mir zu - mit einem Wort: „normal”, als daß sie sich auch nur von ungefähr als Muse eignete. Ich nenne alledie Namen aber nur, weil Sie mit sowas angefangen haben. Wobei ich gestehe, auch von der Jolie benommen zu sein, von ihrer Neigung zur Tätowierung etwa, der ich ansonsten eher fremd gegenüberstehe.
Mitunter werden der begehrende Blick und Schönheitsschau freilich d o c h identisch, nur schließt sich das bei Stars, meine ich, aus, es sei denn, man wolle sich lächerlich machen. Nicht so auf der Straße. Da gilt sehr oft Baudelaires À une passante; in mutigen Zeiten gebe ich den Impulsen nach und schaue nicht nur hinterher. Was nun die weibliche Blickschulung anbelangt, meine ich, es genüge schon vollkommen, um sie zu wissen: woraufhin frau aus ihr ausbrechen kann. Ich lebe in einer Stadt, in der dergleichen nicht selten geschah – ja: es gibt auch Jägerinnen. Man behält von denen, war man das Wild, Narben zurück, die zu tragen überaus stolz macht.
Die andere Frage, die Sie stellen, möchte ich umdrehen: gibt es einen begehrenden Blick i n der Pornographie? Eher nicht, meine ich, sondern der begehrende Blick, der sich auch ausdrückt und dann handelt (was immer bedeutet, daß man riskiert), findet sich viel eher dort, wo er als vermeintlich Pornographisches in ganz andere Zusammenhänge eindringt; überhaupt da erst bekommt das vermeintlich Pornographische pornographische Kraft. Man spürt sie, als nicht direkt Beteiligter, sehr genau immer daran, daß etwas ins Rutschen gerät, daß Konventionen gefährdet werden usw. Die Pornographie a l s Pornographie bestätigt aber die Konventionen, ja i s t Konvention. Nur deshalb konnte die „berüchtigte” Szene in „Teufel im Leib” so wirken; innerhalb eines Pornos wäre sie öde und geradezu harmlos gewesen. Insofern, damit etwas schön und begehrlich sei, braucht es den fremden Zusammenhang. Nichts ist öder als die Massierung schöner Frauenkörper auf einer Modenshow, nichts weniger erektiv als ein Catwalk.

Nein, Melusine, ich verachte die Prüderie nicht. Ich bemitleide sie. Doch weiß ich Mittel, sie aufzuheben, ja ihre gebundene Energie ins entbundene Gegenteil zu verkehren. Nichts anderes meint doch, wir bleiben beim Thema, Verführung. Das Wort „Führung” steht da drin, etwas im alten Sinn Männliches, das sich aus der Gegenwehr kultivierte; wies ich nicht darauf schon hin - : „wären sie uns gleichgestellt, sie wären uns überlegen”? - Um ketzerisch zu sein und Ihnen ketzerisch „topping from the bottom” zu erklären: die Suche nach der genetischen Kraft, die frau – ob tatsächlich oder symbolisch, ist einerlei – an das Ei läßt; frau muß schon sehr denaturiert sein, um in sich Schwäche fortpflanzen zu lassen. Nun gibt es aber solch männliche Dominanz nicht mehr oft - ein Kollateralschaden wahrscheinlich der Frauenbewegung -, vor allem nicht da, wo auch Geist ist, einfach weil Geist immer auch Skepsis bedeutet und Skepsis nicht gerade zu Taten anspornt; also projeziert frau Dominanz in etwas hinein, das es nicht ist, leitet sie aber gestisch oder mit Blicken oder mit Seufzern an, es zu werden – oder doch in einer Weise ihr Vorschein zu werden, die das Bedürfnis wenigstens einigermaßen befriedet.

Ja, wem schreiben wir? Für mich ist diese Frage unerheblich, ich unterhalte mich in meinen Büchern ohnedies permanent mit idealen Lesern. Bücher seien nur dickere Briefe an Freunde, formulierte Jean Paul, unterschlug allerdings, daß es diese Freunde wahrscheinlich - so, wie man sie möchte – nicht gibt. Deshalb variiere ich den Satz: Bücher sind Briefe an andere Bücher und an deren ideale Leser. Das gilt für ein Literarisches Weblog genauso, und auch für eine in ihm geführte Konversation. Von Kafka wissen wir, als wie sie gefährdend ein sie durchbrechender persönlicher, physischer Kontakt empfunden werden kann. Wir wissen es unterdessen auch aus vielen Chats, die sich der Partnersuche widmen: es wird der Partner im Kopf viel mehr als der im Bett gesucht, auch wenn das Bett - aber ein ideales - nicht selten das Zentrum solcher Konversationen ist. Ein echtes Bett da hineinzuwuchten und dann de facto zu Sache und Wollust zu kommen, beendet sie oft. Was ist uns wert? müssen wir fragen. Wobei in unserem Fall, daß andere mitlesen, eine Art Schutz ist: die weiteste Form der Anonymität ist in der Öffentlichkeit zu realisieren, und zwar selbst dann, wenn man, wie ich’s tu, mit seinem Klarnamen auftritt. Ich trete auf - in jedem Fall. Das Literarische Weblog ist eine Bühne. Mehr oder minder gesichtslos sieht uns das Publikum zu: seine Gesichtslosigkeit geht auf uns über. So bleibt das wirklich Intime erst wirklich intim. Versteckten wir’s im Dunkeln, es würde mit Kraft ans Licht gezerrt.

Ja, die Gewalt. Je älter ich wurde, desto weniger kann ich noch glauben, daß i r g e n d etwas, sofern es denn leben will, ohne Gewalt auskommen kann, sowohl erfahrene wie selbst ausgeübte. Wir können und sollten diese Gewalt nicht leugnen, sondern kultivieren - wie etwa der Tango immer ein Messer zwischen den Zähnen des Geschlechterkampfes hat, ohne es aber wirklich zu nutzen -; sie zu leugnen jedenfalls, führte i m m e r zum Mißbrauch. Sowie soziale Macht mit ins Spiel kommt. Verdrängungen kehren wi(e)der – als gälte der Energieerhaltungssatz auch hier. Er gilt. (Gälte er übrigens nicht, dann würden wir erstarren: Entropie).

Von dem, worum Sie mich dezidiert baten, Ihnen davon zu schreiben, möchte ich erst einmal absehen – expressis verbis absehen, weil ich glaube, daß sich solche Dynamiken nur zwischen den Zeilen angemessen mitteilen; wir versuchen hier ja keine Art wissenschaftlicher Abhandlung, vielmehr kommt ein Verständnis übers Geschehen zustande.... dann erst, i s t geschehen, hebt es sich sinnvoll in die Reflexion: „Wie konnte ich nur..?!” Dann entstehen Romane wie MEERE. Darin, glaube ich, finden sich viele Ihrer Fragen beantwortet – auf die poetische Weise, die ihnen angemessen ist. Wie konnte ich nur wollen..?! - Erst dann, Melusine, wollte man - und es geschah -, sind die Abwehrprozesse gütig (i.e. „menschlich”) beiseitegelegt.

Heute also ohne Raub:

ANH, der das Licht liebt.

Den Vorwurf, der in diesem Relativsatz am Ende steckte, verstand sie wohl. Aber, tatsächlich, sie scheute noch das Licht. Aus Gründen, von denen sie nur glaubte, dass er sie kannte. Dieser Irrtum setzte sich fort.
Der folgende Brief führte sie an Grenzen und ließ sie – schreibend – fast wieder verstummen, dann aber – fast hätte ich geschrieben „schickte sie ihn ab“ – stellte sie ihn doch ein.


Melusine an ANH  am 13.03.2010
Lieber ANH!
Der tiefe See, Deutschlands tiefster, wie ich glaube, den ich mir zur Wohnstätte ausgesucht habe (nachdem in dem Haus am Ufer eine Andere, die ich liebe, die Herrin ist), dieser See also, scheint´s, zieht von unten aus seiner Tiefe mich beizeiten so sehr hinab, dass ich das LICHT von oben kaum mehr erkennen kann. Wer lange nicht geschrieben hat, sehr lange nicht, den kann´s überwältigen, was da hinabgesunken ist – unbeschrieben. Das gilt – wie ich erkennen muss – auch, wenn man nicht – wie Sie – ums Leben, um zu leben, für den Lebensunterhalt schreibt.

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Lese ich, was Sie über Ihre Gründe schreiben, sich gegen Homoerotik abzugrenzen, so glaube ich, dass ich doch ganz die gleichen geltend machen kann für das, was ich „Prüderie“ genannt habe und doch eigentlich keine ist. Das allfällige Geschwätz über Sex auf allen Kanälen ist so sehr m o d e r n, das ich mitredend zu sehr das Gefühl hätte, Teil des großen nicht-aufgeklärten Ganzen zu sein. Das Schweigen hier – das Hoffen und Verlangen, dass die Körper selber sprechen – empfinde ich als Gegenwehr.

D e m Ball also mag i c h nicht hinterherrennen (ich renne sowieso nie, sondern lasse rennen). Aber die „Horden“, die Sie so verächtlich beschreiben, unter die misch ich mich (den Fischschwanz gut verborgen) gelegentlich gern. In der Horde, Herbst, links und rechts, vor und hinter mir sind überall – Menschen. Die johlen nicht alle nur laut und sind nicht, keiner – hören Sie hin! - (all) gemein. Ich verstehe Ihre Scheu (ich möchte es lieber als solche verstehen, und so tun, als habe ich die Verachtung nicht gespürt) gegenüber Massenbewegungen. Wo es politisch wird, teile ich sie unbedingt. Es ist immer gefährlich, sich zu einzulassen, die eigene Grenze zu überschreiten und sich zu verbinden. Gerade das kann geschehen, wenn Sie sich einer „Masse“ eingliedern, aus tausend Körpern ein Körper wird und eine Stimme. Dann schwingt eine ungeheure Kraft auf, die kein Einzelner so erzeugen kann. Eine Welle entsteht, man ist ganz DA und völlig außer sich. Eine Übertretung – und insofern eine sexuelle Erfahrung.

Gegen solche Erfahrung wollen Sie sich immunisieren, Sie haben entschieden, so nicht DA zu sein und bei sich zu bleiben. Das kann ich respektieren und ich verstehe die Gründe auch. Anders dagegen geht es mir mit ihrer Abwehr gegen alles, was vielen gefällt. Es kommt mir vor, als reichte es Ihnen schon, ein Bild, ein Lied, ein Buch herabzusetzen, wenn es „beliebt“ ist. Als könne per se nichts taugen, was ein großes Publikum findet. Das ist alles POP und Pop ist Mist. Punkt. Basta. Machen Sie es sich hier nicht zu einfach? Ist das als Unterscheidungskriterium, als Qualitätsmerkmal genug? Der Werther war ein „Bestseller“ – und berührt mich immer noch. (Nicht immer angenehm, übrigens.) Es will doch jede, jeder, der schreibt, malt, musiziert, wenn er, wenn sie es denn ernsthaft betreibt, gelesen, gesehen, gehört werden. Welches Glück ist es dann, wenn es gelingt, auch die vielen zu erreichen, zu berühren, die sonst ausgeschlossen werden und abgespeist mit dem verklebten, abgestandenen, breiigen Müll, der sich überall ausbreitet. D e n verteidige ich hier nicht.

Anders als Sie habe ich die vorgeblichen E l i t e n (ich weiß schon, dass Sie das Wort anders meinen), immer mehr verachtet als die Massen. Etwas Elitäres, ich nenne es lieber Solitäres entsteht nicht aus der Behauptung und der Abgrenzung, der Setzung von „Distinktionsmerkmalen“, dem Einsatz von „sozialem Kapital“, sondern aus der Tiefe, dem Schöpfen da unten, wo wir uns alle gleichen – und deshalb wird, was in großer Kunst „gesagt“ wird, eben nicht für blasierte Eliten gesagt, sondern für a l l e. Auch wenn´s nicht alle „verstehen“.

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Ach, wie uncharmant Sie über Frau Cruz schreiben, m e i n e Schöne. Ich glaub´, was Sie an Ihr nicht mögen, ist gerade das, was mich anzieht: das Erdige, Bäuerliche. Bedenken Sie, Herbst, i c h komme auch aus der Tiefe eines Elements, das Meerschaumige ist nur die Erscheinung am Licht. Unten herum kleben die Algen und der Tang. Ich mag´s, wenn man das einer Frau noch ansieht, dass sie „zupacken“ kann. – Nun, da werden wir uns kaum einigen. (Sie vergaßen – wahrscheinlich eben nicht zufällig – in ihrer Reihung Fanny Ardant. D e r könnte ich Gedichte schreiben.). An meiner „weiblichen Blickschulung“ auf den Mann hingegen – erkenne ich – müsste ich noch a r b e i t e n (aber das ist ein sehr hässliches Wort in dem Zusammenhang).

Was Sie über den begehrenden Blick schrieben, war mir sehr lehrreich: „der begehrende Blick, der sich ausdrückt und handelt“ – den werfe ich nicht. Es gehört, ganz offenbar – ich habe das nur nie gesehen - , zu meiner Prägung nicht zu handeln, sondern handeln zu lassen. Es berührt mich eigentümlich, dies aufzuschreiben und zuzugeben. Aber es ist wahr. Und eine Wahrheit, wie ich finde, die mich nicht entkleidet - und folglich hier erscheinen kann. M o d e r n – im oben erwähnten Sinne – wäre es nun, mir zu raten, wie dies zu überwinden sei. Das will ich nicht. So ist es. Und es gefällt mir gut. Da muss ich keine Andere sein. Ich jage nicht. Aber: Rotkäppchen im tiefen Wald auf der SUCHE nach dem Wolf...

(Neben der Ver-Führung, lieber ANH, gibt es auch Ver-Fügung – und Ein-Fügung. Barock statt Gotik.)

Lieber Herr Herbst, ich habe MEERE gelesen. Ein Zufall ist es, dass ich diesen Blog „gefunden“ habe (obwohl ich nicht an Zufälle glaube). Ihre Bücher (nicht alle, aber einige) lese ich schon länger. Sie sind vielleicht sehr überrascht, wenn Sie erfahren, was mich in MEERE am meisten berührte – und wirklich t r a f. Darüber eben kann ein Autor nicht verfügen, wie seine Sätze gelesen werden. „...wir hätten die Geburt ohne einander kaum durchgestanden...“ Sie haben die Szene der Geburt mit der „Blutschlacht“ verbunden – und das l e u c h t e t mir so sehr ein...

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Ich kann da nicht weiterschreiben. Und diesmal hat es andere Gründe, mein Verstummen. Diesmal geht es nicht um Verkleidung und Verbergen – Es ist so: die Leugnung der Gewalt – an dieser Stelle – kann einen Erstickungstod bewirken. Er ist nur fast eingetreten. Aber die Stimme ist nicht zurückgekehrt. Sie murmelt, ist kaum zu verstehen.
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Ich liebe das Licht auch, aber nicht immer traue ich ihm.

Melusine

P.S. Der Vater, der Vater – ich denke viel an IHN. Und werde ein andermal darüber schreiben. 

Darauf antworete er so, dass sie nur zustimmen konnte. (Was ihr, dem „Geist, der stets verneint“, besonders schwer fällt.)

ANH an Melusine am 15.03.2010
Liebe Melusine, die Algen und der Morast,
wer wäre ich, die zu leugnen, ja ihnen entgegenzustehen? Das tue ich nicht, bin viel zu schlammig selbst, wenn ich wühle... und ich w ü h l e, wenn ich mich einlasse. Wir sind ja organisch und eben n i c h t nur Geist. Das zu wissen und es auch zu leben, stärkt ihn, denn organisch, letztlich, ist auch er und hängt an der Nabelschnur; zwackt man sie ab, wird er ausgezehrt siechen und schließlich sterben. Erde gibt uns Geist, nicht ein Gott, nicht Engel, nicht irgend ein sonstiges blutloses Gedächtelchen. Nein, das war es nicht, was ich einwandte gegen die Ihre. Zumal die Ihre ja eine Ihre-in-der-Vorstellung ist, wie „die Meinen” nur in meiner Vorstellung. Mein Einwand ist vielmehr, daß unsere Vorstellungen bereits industriell gefertigt werden. Hier liegen mein Verdacht und meine Distanz.
Nein, nicht weil etwas allgemein beliebt sei, halte ich es schon für schlecht. Tatsächlich halte ich es aber für einen Grund, ihm zu mißtrauen. Dann prüft man und bestätigt oder verwirft. Aber erst dann. Zu viel Unheil ist über Fantum geschehen, zumal in Deutschland, das Millionen Fans andere Millionen in die Kammern hat wissend schicken lassen. Hitlerdeutschland war in allererster Linie ein Ergebnis von Fans; daß die USA heute und seit Jahren permanente Völkerrechtsverstöße begehen können, ebenfalls. Hitlerdeutschland war Showbusiness; daß ich deshalb so empfindlich bin - überempfindlich, sagen viele -, liegt auch an meiner familiären Herkunft; es liegt aber mindestens ebenso an meinen persönlichen Erfahrungen mit Gruppen, sei’s in der Schule, sei’s im Freizeitbereich; und es liegt, selbstverständlich, an Menschen, die mich geprägt haben, ob nun persönlich-direkt oder über meine Lektüren. Nein, Hitlerdeutschland ist, wenn ich es argumentierend benenne, k e i n Totschlagargument, sondern eine gefühlte Verpflichtung, die ich zu tragen habe; es ein Totschlagargument zu nennen, ist bereits die neue Show, das neue Business, das darüber hinwegschieben will, daß jenes Unternehmen der Manipulation, welches wir heute PR nennen, in direkter Linie von Goebbels stammt: Lehren seiner Strategien. Schon deshalb habe ich die Fluchtbewegung in die Arme des Siegers, die vor allem über die Musik lief und englischsprachig war, nicht mitgemacht; ich halte sie für eine falsche Erlöserbewegung, wie ich Erlöserbewegungen insgesamt für falsch halte.
Sie haben recht: der Einzelne ist erst einmal „nur Mensch” und als solcher wert, aber sowie er in die Masse taucht, hört es auf mit dem Einzelnen; er reagiert dann auch völlig anders, als sitzt man beisammen und spricht. Deshalb macht mich, was auf Massen wirkt, mißtrauisch. Da höre ich sehr genau hin. Dann fälle ich mein Urteil, in dem ich mich selbstverständlich auch irren kann. Genau hinzuhören, bedeutet zu vergleichen, in Beziehung zu setzen undsoweiter. In vielen Fällen kann mir da auch Pop gefallen: Ich liebe Joni Mitchell, ich war eine Zeit lang versessen auf Johnny Cash, ich hänge bis heute an Konstantin Wecker, ich verehre bis heute Hannes Wader, wiewohl ich politisch anders gesonnen bin und war; ich liebe Paolo Conte; es gibt der Beispiele viele, für die ich mit einigen Massen unisono bin. Wiederum – wenn ich etwa diadorims Konzertkritiken lese (ich lese sie gerne, sie schreibt viel zu wenige) – kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, das sei gar kein Pop, auch wenn es so genannt ist, sondern irgend etwas, das den Pop zu seiner Inspiration nimmt, so, wie manch großer Komponist das Volkslied sich hernahm. Denken Sie an Schubert. Nein, der hat k e i n e Volkslieder geschrieben.... (Ausnahme etwa ist Brahms’ Gutenachtlied: d a s ist ein Volkslied... geworden). Und auch bei sogenannter Klassischer Musik gilt für mich der Pop-Vorbehalt. Erst einmal. Da nun immer wieder gesagt wird, Pop sei mehr als das Phänomen der jeweiligen Kunstform, sondern er meine auch die damit verbundene Kleidung, das Gebaren usw., so will ich Ihnen erzählen, als wie erlösend ich es empfunden habe, daß die Alltagskleidung Einzug in die Musentempel hielt; ich, der ich immer gerne Anzüge trug, war einer derjenigen, die die klebrig verkrustete Bürgerlichkeit unterliefen und in Jeans und Pulli zum Konzert erschienen. Unterdessen ist das üblich geworden, also ehre ich bisweilen wieder durch festliche Kleidung, was ich zu hören bekomme. Mittlerweile stimmt da die Mischung fast immer, und die Konzentration geht in der E-Musik auf s i e und nicht auf das ganze Gesellschafts-Zeug drumrum. Das Sie offenbar mit dem „Elitären” verbinden. Elitäres ist aber nicht notwendigerweise, wahrscheinlich sogar in den seltensten Fällen, mit Reputation und/oder Geld verbunden. Wenn ich von Eliten spreche, meine ich Ernst Bloch. Die, mit Aragon gesprochen, beaux quartiers können mir gestohlen bleiben. Was aber eben nicht heißt, daß ich Arbeitersiedlungen fevorierte, auch Friedenau meide ich lieber. Da lebt mir zu viel Gesetztes.

Ja, ich unterschreibe das sofort:
und deshalb wird, was in großer Kunst „gesagt“ wird, eben nicht für blasierte Eliten gesagt, sondern für a l l e. Auch wenn´s nicht alle „verstehen“
Sie variieren hier, ohne es wahrscheinlich zu wissen, einen frühen Aufsatz Gerd-Peter Eigners, dessen Lebenswerk soeben die neue Ausgabe der horen ehrt. Ich habe die Stelle in meinem darin erschienenen Aufsatz zitiert:
Kunst wird nicht gemacht für jene, die Muße haben und ein Vergnügen am Kunstwerk; Kunst wird gemacht für jene, die k e i n e Muße haben und k e i n Vergnügen am Kunstwerk.
Radikaler kann man kaum sagen, was auch ich meine. Es geht nicht um Selbstbefriedigung von Eliten. In einem ungefähren Sinn unternimmt Kunst, wovon Freud schrieb, wo Es sei solle Ich werden. Die Analogie ist nicht präzise, aber schwirrt in dem Raum, der von Kunst gefüllt wird. Eliten, die es sind, sind nicht blasiert. Sie sind wütend.

Jetzt sind wir in der Theorie, das hatte ich an sich nicht vor, dort zu landen; andererseits gehört sie ins Leben dazu; wenn wir es schaffen, mit ihr statt gegen sie zu tauchen, kommen wir, davon bin ich überzeugt, dem, was Leben sei, zumindest was es an Qualitäten mit weitem Herzen schenkt, sehr nah. Nur ist das, sagt Paglia, kein Spaziergang im Grünen, es ist keine Sommerfrische, sondern da kleben genau Algen und der Schlamm dran, von dem Sie mir erzählten.

Man schreibt, Melusine, wenn man Kunst meint, nicht für den Lebensunterhalt. Der ist, wenn’s gutgeht, Nebenerscheinung. Man schreibt um sein Leben. So auch liebt man, begehrt man – beides muß nicht identisch sein, es kommt auch getrennt voneinander vor und hat auch dann alles Recht dessen, was leben will. Dabei finde ich Ihre zugegebene Passivität, die ja keine ist, sondern „gehandelt zu w e r d e n” genießt, völlig legitim. Weshalb es überwinden, wenn es Ihnen Lust gibt? Wir haben keinen Anspruch zu erfüllen, auch nicht den, auf Biegen und Brechen emanzipiert zu sein – oder das, was gemeinhin drunter verstanden wird. Ich habe viel zu viel Erfahrung mit devoten Frauen, auch mit masochistischen Frauen, um nicht auch deren Form, ihr Leben zu wenden, tief achten zu müssen. Sie alle haben Gründe, und zwar gute – wie ich die meinen, auf der anderen Seite zu stehen. Unterm Strich gilt Manfred Hausmanns wundervolles Gedicht, das mit den Zeilen endet
Die Ferne ist es nicht und nicht die Nähe.
Ach, immer lebt das Innigste allein.
Laß uns, wir gut es auch, wie schlimm es um uns stehe,
laß uns barmherzig zueinander sein.
Ich habe dieses Gedicht, das zu den mir liebsten-überhaupt gehört, in Der Dschungel bereits mehrfach zitiert. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß Rotkäppchen i m m e r gefunden wird, vorausgesetzt, es ist für die Zähne bereit.

Jetzt schnür ich noch einmal um Ihren See herum und schweige ein bißchen. Nein, Melusine, ich bin nicht wasserscheu.

Ihr
ANH

Melusine an ANH am 16.03.2010
Nah und Fern
Lieber ANH,

dieses Mal bin ich so einverstanden mit Ihnen, dass es mir schwerfällt, den Widerspruch oder doch zumindest die Differenz zu erzeugen, an dem, an der doch jedes Gespräch sich letztlich entzündet. Das Streben nach R e i n h e i t („reine Vernunft“ gegen „reine Erfahrung“), der Versuch ein G a n z es (der Mythos vom Eros) künstlich, d.i. durch Kunst wieder herzustellen, hat mich immer eher misstrauisch gemacht. Goethe selbst hat sich hierin überlistet. Wo er nach Klassik – in diesem Sinne - strebt (wir sprachen vom unfreiwillig komischen „reinen“ Paar Wilhelm und Natalie), da tanzen ihm die Frivolen Friedrich und Philine dazwischen. Deshalb ist Goethe „groß“. Es gibt eben – und soll´s auch nicht geben – keine r e i n e Liebe und keine r e i n e Kunst, denn wenn es sie gäbe, verleugneten sie ihren Ursprung und töteten sich selbst. Wo immer dagegen so was Reinliches scheinbar gelingt, da bietet es sich zur – wie Sie das nennen – industriellen Verwertung und Fertigung geradezu an. Da wird´s Dekor. Und schlimmstenfalls „gemütlich.“

Trotzdem liegt hier ein Problem verborgen (oder auch offen zu Tage), dass alle „autonome“ Kunst betrifft. Verdacht und Distanz gegen diese „Kulturindustrie“ drückt die Kunst (und ich meine jetzt bildende Kunst, Literatur und Musik) gern durch „Schwerverständlichkeit“ und eine Verweigerung jeden „Gebrauchswertes“ aus. Man soll sie nicht nutzen dürfen, nicht daheim und nicht in Gesellschaft, nichts lernen und sich nicht „gut unterhalten“ (Sie erinnern sich an: „prodesse et delectare“?). Die Kunst will nicht (mehr) „dienen“. Und was ist geschehen? Sie diente mehr denn je als Distinktionsmerkmal der oberen Kasten, die sich ihren Brecht-Lieder-Abend gefallen lassen. Dagegen richteten sich seit je mein Verdacht und meine Distanz. Aber die teilen Sie ja.

Es war immer wieder ein Anliegen der Avantgarden (nehmen Sie die Situationisten oder die Dadaisten, auf je unterschiedliche Weise auch Beuys und Warhol), die Kunst zurückzuholen ins Leben (und dessen Unreinheit) und die vielen (nennen wir sie nicht „Massen“) teilhaben zu lassen. Diese Teilhabe kann offensichtlich nicht in kontemplativem Museumsbesuch aufgehen, sondern erfordert die Gelegenheit zur Mitwirkung: zu Gebrauch, Umwidmung, Umgestaltung. Wie wenn es als Schutz gegen die Kälte die Wand bedeckt, ein Schau- und Schmuckstück ist, belehrt, verehrt und erzählt: der Teppich von Bayeux (http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Normans_Bayeux.jpg), eine Stickarbeit, deren Schöpferinnen (?) wir nicht kennen.

Aber wir können nicht zurückgehen (und ich will´s auch nicht), sondern müssen nach vorn. Neue Formen finden: zum Beispiel literarische Blogs. So beginne ich, die Sie als Buch-Autor kannte, Ihr Projekt zu verstehen. Es ist eine Gratwanderung, wie Sie – als Autor – hierbei kenntlich bleiben können. Es ist halt kein Zufall, dass die N a m en der Kunst-Handwerkerinnen von Bayeux nicht auf uns gekommen sind.

Auch die von Ihnen so viel gescholtene „Pop“-Musik (für Ihre Schelte müssen Sie ja offenbar auch viel einstecken; vielleicht macht´s Ihnen deshalb soviel Spaß immer wieder diese Grenzlinie zu ziehen; Sie können hier sicher auf Reaktionen rechnen) verstehe ich, wo sie mehr ist und sein will als Berieselung und Betäubung (der „Massen“) als avantgardistische Kunstproduktion, die darstellt und reflektiert, wie wir leben, arbeiten, lieben. Wirklich gute „Pop“-Musik ist zudem – wie alle Kunst – selbstreflektierend und setzt sich mit den eigenen Produktionsbedingungen auseinander. Immerhin – geben Sie zu – lieben Sie Joni Mitchell (ja!) und erwähnen Johnny Cash (kommen Ihnen nicht die Tränen, wenn Sie ihn „Hurt“ singen hören?). Hannes Wader allerdings berührt m i c h peinlich, doch das liegt weniger an ihm, als an meinem Benehmen zu jener Zeit, als „wir“ (Sie freilich nicht) Hannes Wader hörten. Daran erinnere ich mich nicht so gern...Sehen Sie, lieber Herr Herbst, ich glaube, in diesen pauschalen Vorbehalten gegen „Pop“ (die Sie ja auch schon ein wenig aufgelöst haben), verbirgt sich nichts anderes als bei mir hinter der jahrelangen Abwehr gegen die Oper und fast alle klassische Musik. Das war halt, was „die anderen“ hörten, gegen die man sich abgrenzen wollte. Bei mir waren´s die „Großbürgerlichen“, die sich „für was Besseres halten“. Da wollt´ ich mich nicht anbiedern. Es war dumm. Und hat mich um viele Erfahrungen gebracht, die ich jetzt erst nachzuholen beginne. Ich staune und lerne und weine – in der Oper (für deren Besuch ich mich übrigens durchaus aufwändig kleide, um die Aufführung auch hierdurch zu ehren).

Nie würde ich Ihnen entgegenhalten, der Hinweis auf den Einsatz der „Masse“ durch die Nationalsozialisten sei ein „Totschlagargument“. Es kann – meine ich – überhaupt keine Teilhabe an „Massenveranstaltungen“ in Deutschland geben ohne ein Bewusstsein hiervon. Das begleitet mich i m m e r. Wir sind Erben. Und dieses Erbe kann man nicht ausschlagen. Man tritt es an. Mit allen Verpflichtungen. Eine Konsequenz könnte sein, alle Massenphänomene zu meiden. Dann hielten Sie aber nur sich selber „rein“. Ihren Ekel (denn das ist es doch?), den kann ich sogar verstehen, manchmal empfinde ich ihn auch. Dann denke ich: Du musst genauer hinschauen, was hier eklig ist. Es ist nicht das „Fantum“. Es ist die ANGST, aus der heraus die Schwachen (in Geist und Herz), sich gemeinsam eklig stark fühlen wollen, um jemand zu verletzen. Man kann den Unterschied sehr gut fühlen, zwischen einer Masse, die aus FREUDE etwas erzeugt und einer, die aus ANGST handelt. Die Angst stinkt. Und – in der Regel – weichen die Ängstlichen schnell zurück, wenn sich ihnen jemand entgegenstellt, sogar wenn´s eine kleine Frau ist (am ängstlichsten sind ja meistens Männer). Daraus kann man was lernen: dass es nämlich mehr geben muss, die aus Freude leben, denn aus Angst – das ist in Deutschland, offensichtlich, schwer, immer noch. (Mir hat hier die Lektüre von Norbert Elias geholfen, zumindest ein wenig zu verstehen.)

„Man schreibt“, schreiben Sie mir „wenn man Kunst meint, nicht für den Lebensunterhalt....Man schreibt um sein Leben.“ Ich weiß. Und doch – ich möchte mich mit dieser Entgegensetzung, Unterscheidung nicht abfinden. Ich kann - ganz uneigennützig, denn ich schreibe weder ums Leben noch um den Lebensunterhalt - sagen: Ich wünschte, dass Künstler nicht arm wären. Zumindest nicht s o arm, wie es die meisten sind. Muss man sich Marktgesetzen „unterwerfen“, wenn man auf „den Markt“ reflektiert? Das hat immer so schnell den Geruch des „Unanständigen“, wenn einer Geld will für die Kunst, weil die Kunst ja in dem Sinn keine „Arbeit“ sein soll. Aber doch ist, für die, die sie produzieren. Sie wissen das alles viel besser als ich. Die Kunst kann nicht demokratisch sein, das ist mir klar. Aber das heißt doch nicht, dass eine demokratische Gesellschaft „ihre“ Künstler verhungern lassen muss. (Gut, ich verstehe schon, dass bereits in dem Possesivpronomen das ganze Problem ausgedrückt ist. Und eine Lösung habe ich auch nicht.)

Froh bin ich, lieber Herr Herbst, dass Sie zwischen devot und masochistisch unterscheiden. (Im Übrigen betrachte ich mich selbst durchaus als Feministin, wenn ich auch nicht von mir – oder irgendjemandem – glaube, man könne „emanzipiert sein“.) Zum Masochismus gehört der Sadismus und - unabhängig von jeder konkreten Praxis, über die ich mich weder äußern kann noch will –halte ich Sades zwanghaftes Sprechen vom Verbrechen für gescheitert. Sade ist, in einem kaum zu überbietenden Maße, ein Moralist: Er entwirft in seinen Schriften einen ausgefeilten Kodex von Verhaltensregeln (gerade als Gegensatz zum brüchiger werdenden Kodex bürgerlicher Gesellschaft). Indem er diesen unablässig rechtfertigt, beraubt er die Verbrechen jedoch ihres Sinns (den sie doch nur als Verbrechen hätten). Daraus geht der Zwang zur – ermüdenden – Wiederholung hervor. Es kommt und kann auch nie zu dem kommen, was Foucault „transgression“/Übertretung genannt hat. Und erst dort, durch das Eintreten in die LEERE, die sich erst j e n s e i t s der Sinnsuche offenbart, beginnt --- etwas Neues. Vielleicht.

Auch ich verabscheue die Erlösungsbewegungen. Aber ich glaube, dass wir alle Erlösung brauchen. Oder zumindest B a r m h e r z i g k e i t. Es ist ein sehr schönes Gedicht. Danke.

Seien Sie gegrüßt, aus der Ferne, so nah ---

Melusine 

Darauf folgte im Briefwechsel eine zweiwöchige Pause. Es war Leipziger Buchmesse. Doch, glaube ich, war das nicht der einzige Grund.


Fortsetzung folgt.