20110108

BLICKLOS (And I wish him well)

Berlin, 9. Oktober 2009, 18.05 Uhr (Central European Time CET)

I know the land
And the coloured sand
Everythings fresh at the source in that land

Das also war sie gewesen, seine letzte Begegnung mit Annie. Ein Augen-Blick, der nicht stattfand, denn sie war ihm ausgewichen. Hatte über seine Schulter, gegen seine Brust, auf ihre Schuhe gestarrt. All ihre Versuche, ihn zu sprechen, hatte er vorher abgewehrt. Sein Mobile ausgeschaltet, die Festnetzleitung aus der Wand gezogen. Mit Karims Eltern jedoch hatte er mehrmals von der Botschaft aus telefoniert. Es war viel zu regeln, um Karims Asche nach Hause zu bringen, an den Strand und ins Meer zuletzt, wie er es, behauptete die Mutter, gewünscht hätte. Tomasz konnte sich nicht vorstellen, dass Karim sich tatsächlich mit seinem Tod beschäftigt hatte. I´m the depressive drug abuser, for all I know, not you my friend. My fiend. Dennoch - so würde es sein: Die Freunde, Karims Familie, ein Lagerfeuer am Strand, Gitarrenmusik, in die Wellen laufen mit der Asche, sie auflösen im Ozean. Es fühlte sich richtig an, egal, ob Karim das selbst geplant hatte oder die Mutter in ihrer verzweifelten Sehnsucht, dem geliebten Sohn noch einmal etwas recht zu machen, es sich ausdachte. Die australische Botschaft hatte ihm geholfen, den Papierkram zu erledigen, mitfühlend und engagiert eine junge Frau, betroffen vom Tod dieses Musikers, der nur wenige Jahre älter als sie gewesen war und von der Traurigkeit des struppig-schönen dunklen Ritters Tom. 

In dem ganzen Annie-Jahr hatte es keine andere Frau gegeben, trotz der vielen Tage und Nächte, die er ohne sie gewesen war. Warum nur hatte er sich so fixiert, so verrannt? Er begriff es nicht mehr. Die alte Frau, dachte er, ich habe meinen Freund gegen einen Baum gehetzt wegen einer Frau, die beinahe, - hatte sie das nicht selbst immer wieder aufgebracht? -, meine Mutter sein könnte. Manche werden mit sechzehn schwanger. Als ich zum ersten Mal einen Jungen küsste, warst du noch nicht mal geboren. Fuck you, Annie.

Da war sie nun vor ihm und fuhr fahrig mit den Fingern durchs Haar. „Ich muss...“, fing sie an. Doch er unterbrach sie sofort: „I´m going home. Tomorrow.“ Sie schluckte, immerhin schluckte sie, aber dann drehte sie sich um zu einem jungen Mann, der hinter ihr stand, den er noch gar nicht wahrgenommen hatte. Sonderbar das, denn es war ein Riese, der seine Hand auf Annies Arm legte und sagte: „Mama...“ Damn. Der Sohn. Ein Jahr lang hatte er Annie geliebt und sie besessen, doch sie hatte einen Sohn und noch einen und einen Mann, ein komplettes anderes Leben, das er ignoriert hatte, das es nicht gegeben hatte, wenn es sie beide gegeben hatte und jetzt, hier, am Tag vor seiner Abreise wurde das leibhaftig, das andere Leben, stand gigantisch mit hängenden Armen gelassen dar und sagte: „Mama.“ Annie nickte hinauf zu dem: „Mein Sohn.“ und hinüber zu ihm „Das ist Tomasz Hosni. Einer meiner Studenten vom Goethe-Institut“. Sie gaben sich die Hand. „Woher kommen Sie?“, fragte der höflich, während Annie hastig noch mal rief: „Ich muss....“ und dem Sohn zu: „Wartest Du hier, ja?“. Weg war sie und da stand er vor den Hackeschen Höfen mit ihrem anderen Leben und wusste dem nichts zu sagen. Drei Mal, Annie, hast du mich verleugnet, wie Petrus den Herrn. You ´re not Jesus. Wann hatte sie das gesagt? Unter ihm, als er die Wahrheit gesprochen hatte: I am your lord.

I know the sound
As the sun goes down
Everythings fresh as the sun goes down

„Aus Australien. Ich habe ein Stipendium gehabt hier in Berlin für meine Musik. The Grant McLennan Fellowship. Well, you might not know...“ „Doch. Doch.“, lachte das große Kind „Die Go Betweens, meine Mutter hört sie rauf und runter. Da war sie sicher begeistert.“ Wenn du wüsstest, wovon deine Mutter begeistert war, wenn du das wüsstest, dann stündest du anders hier. „Meine Band heißt: Poor Heirs. Wir sind bei My Space.“ „Das hör ich mir mal an.“ „Ich gehe zurück nach Hause.“ „Nach Sydney?“ Tomasz nickte. „Würde ich auch gern mal hinfahren.“ Ich reise, dachte er, mit der Asche meines Freundes im Gepäck, den ich gegen einen Baum habe fahren lassen, auf dem Weg in euer verdammtes Neuglobsow am See, wo du daheim bist, Annies anderes Leben, in das ich eindringen wollte, mit ihm, der mich verraten hatte. Mit der Heiligen Annie hat er mich verraten. Aber, Annie hüte dich, denn jetzt habe ich dich erwischt. Das Kind wird dich hören auf MySpace, es wird hören, was du getan hast mit Karim, das kann keiner überhören: Comecomecomecomecomecome. Das kannst du nicht wegleugnen und lächeln. Das Kind wird begreifen. Wenn ich schon Down Under bin, wird dein Sohn dich fragen: Wer ist das, Mama, mit dem du gekommen bist? Und das wird Karim sein, der Tote.

And I wish him luck
I hope he get´s it right
As he lives my life.

Dann war sie wieder da, drückte dem Sohn eine Tüte in die Hand und ihm, Tomasz, legte sie flüchtig die Hand auf den Arm: „Ich wünsche dir einen guten Flug, Tomasz.“, beugte sich ein wenig vor, streifte mit ihrer Wange die seine und flüsterte an seinem Ohr: „I´ve got visa.“ Dann war sie weg, verschwunden in der Menge, die sich die Oranienburger hinaufdrängte. Fuck you, Annie. Dafür werde ich dich noch mehr hassen. Ich fliege zurück, weil ich dich los werden muss. Comecomecomecomecomecome. Aber es war Karim, mit dem sie das Duett gesungen hatte.

And if you see him
Tell him I´ll be him
As I live his life