20111012

ZERRÜTTUNG (So you stay inside...)

Neuglobsow, 25. August 2009, 16:42 CET (Central European Time)

Ich schaffte es gerade noch, mich am Küchenhocker festzuhalten. Wie die Schnitte an den bloßen Fußsohlen brennen. Die Zuckerdose ist mir aus den Händen geglitten, als ich nach ihr greifen wollte. Der Tee auf der Anrichte verdampft den tröstlichen Duft von Hagebutten. Ich kann die Tasse nicht erreichen von hier aus. Alles entgleitet mir in den letzten Tagen. Meine Finger sind oft wie taub, bis das sachte Kribbeln kommt, als seien sie eingeschlafen und wachten nur langsam wieder auf. Ich kann mit denen nicht mehr zupacken, nichts festhalten. So fing es auch bei Mama an. Ruhig, Anne, ganz ruhig. Ein Windhauch wie aus Engelsmund.

It rains for days
So you stay inside
And lock your door
Crying all the time
Crying for...

Ich hebe den linken Fuß an und ziehe die Sohle vor meine Augen. Auf dem Boden liegen die Kandisstücke. Die Dose ist heil geblieben, keine Scherben. Man schneidet sich nicht an Kandisstücken. Mir tut alles so weh. Ich blute, meine Füße bluten, ich kann nicht länger auf ihnen stehen, nicht weiter gehen, von hier aus nicht mehr. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich streiche mit dem Finger über die raue Fußfläche. Da ist kein Blut zu sehen. Meine Wunden bleiben unsichtbar. Mama! Bitte, Mama, puste! Was für ein böser Zauber das ist, dass keiner diese Schnitte sieht. Niemand wird mir glauben, wie weh mir das Gehen tut. Bert wird nicht einmal lachen, wenn ich ihm das erzähle. Bert darf nichts davon wissen.
Es gibt soviel, wovon Bert nicht wissen darf. Erst wenn er geht, atme ich auf. Jeden Morgen warte ich auf den Moment, wenn die Tür ins Schloss fällt. Dann fällt die Erstarrung ab, die hoffnungslose Müdigkeit, die mich befallen hat. Auch der heutige Tag fing damit an, dass er das Haus verließ und den Weg durch den Wald nahm zum Institut für Limnologie. Dass Bert den See erforscht. Bert wird nie etwas finden darin, was er sich nicht erklären kann. Eine Langzeitstudie geschichteter Seen, oh Bert, eine lange, so lange Zeit und doch: Der See wird sein Geheimnis nicht preisgeben, nicht an dich. All deine Wasserproben zeigen dir nicht, was hier geschieht. Ich musste raus. Rennen, um den See rennen, mich auslaufen, weglaufen vor dir und deinen Studien. Aber meine Füße trugen mich nicht ans Wasser. Ich war gefangen, deine Gefangene mit den zerschnittenen Füßen. Die liebenswürdige Zurückhaltung, diese elende Mäßigkeit mit der du mich erträgst, aushälst, behälst. Ich sehe in deinen Augen jetzt oft den Blick, den du auch auf Mama geworfen hast, meine schöne goldene Mutter.

Climb aboard my pony
Now you´ve been thrown
Get back in the saddle
And let it be known
That you´re made of steel

So gütig, sie hat dich gehasst dafür, sofort. Bevor wir gingen, zog sie mich beiseite: „Er ist es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen dort unten.“ „Eben drum.“, sagte ich und schüttelte sie ab. Die Sehnsucht, hatte ich gedacht, ist an dich gebrandet und ausgespült, bei dir hat sie sich verlaufen wie in einem Delta. Ich habe mich treiben lassen. Du warst das Boot. Wer ein Boot hat, braucht nicht auf eigenen Füßen stehen. Das war der Deal. Die See, dachte ich, die See wird uns verbinden. Dabei sind es die Wasser, die uns trennen wie Ozeane die Kontinente. Du erforschst, ich tauche. Du hast nie etwas gehört dort unten, nur das Rauschen deines eigenen Bluts. Mein Blut ist kalt. Das weißt du nicht. Deine Vernunft ist nicht herzlos. Ich habe mich darauf verlassen.

Das Haus ist groß, aber es ist nicht mehr groß genug für uns, ich höre durch alle Wände, wenn Bert daheim ist, es ist alles durchdrungen von ihm. Das ist sein Leben, das war unser Leben, das Leben, das ich nicht mehr will, dass ich ihm gegen die Brust knallen, vor die Füße kotzen könnte, dieses Leben, das mich verstummen lässt, das mich erstickt, das mich schwer macht, so schwer, dass ich die Füße nicht mehr heben kann, dass jede Bewegung eine ungeheure Anstrengung ist, dass ich schnaufe, wenn ich mich nach den Zuckerstücken bücke, dass ich mich vor Schmerzen krümme, wie ich den Besen und die Schaufel hervor hole, dass mir die Luft wegbleibt, wenn ich mich beuge und kehre.

You walk around
With your eyes wide open
But you´re barely alive

Ich habe versucht mich leichter zu machen, damit mich diese Schwere nicht weiter hinunterzieht. Ich wiege nicht mal mehr 50kg, das habe ich geschafft. Ich mache keine Diät, aber ich habe Angst, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann, wenn ich Gewicht zulege. Das könnte sein, dass ich dann endgültig nicht mehr genügend Kraft habe, mich aufrecht zu halten. Ich will schwimmen, tauchen, absacken; du hast auf Mama immer nur mit Nachsicht geschaut; ich weiß das Bert, ich habe dich geliebt deswegen, aber ich sehne mich nach ihr, nach ihren Schlingen, weißt du, es ist dort unten nicht schauerlich, es ist so schön im grünen Licht.

Der dunkle Ritter kennt das Unten. Er weiß darum und hat es gesehen in mir, von Anfang an. Ich lecke aus seinem Nabel, nicht weil er flacher ist und seine Haut jünger als deine, ich lasse mich von ihm auf den Boden werfen, weil er weiß, wie es da ist, wo ich herkomme. Ich habe geschworen. Für immer und ewig. Meine schönen Söhne und deine. Meine Mühen siehst du nicht. Du glaubst, dass ich die Tage vertrödele. Und meine jämmerlichen Klagen. Ich schlüge mich, wär´ ich an deiner Stelle.

You say you´ve lost your touch
But don´t you think
That for once in your live
You should walk without a crutch?

Ich will es. Ich streife die Socken über und schlüpfe in die Schuhe. Es wird schon gehen, einen Fuß vor den anderen. Kein Blut auf dem Boden. Nur noch ein paar Zuckerstücke für das Pony.