20110416

Heiße Zelle (The Old Way Out)

Neuglobsow, 13. September 2009, 5:06 CET(Central European Time)

The Old Way Out is now the new way in.

Der See strahlte. Er schien aus tiefer Dunkelheit die Stille zu verstrahlen, nach der ich mich so vergeblich sehnte. Brachtest du mich darum in diesen Landstrich, mein Mann? Damit ich endlich jene Gelassenheit finde, um derentwillen ich mich an dich schmiegte und in dein Leben fügte? Doch schon Fontane schrieb, dass diese Tiefe sich von altersher den Hang nach Menschenopfern bewahrt hat. Und so höre ich, wann immer ich ans Ufer trete, im leichten Schlag der Wellen das „Komm, komm, komm“ der Schwester, die ich ertränkte.

Wieder einmal hatte ich mich davon geschlichen, aus dem Bett und dem Haus, in die Morgendämmerung, an den See, weg von deiner Nähe, die mich umfängt und fesselt. Was treibt mich wohin? Zum See hinunter ging ich noch gemessenen Schritts, doch meine Gedanken stürzten sich schon fort ins Wasser, trieben wie Ertrinkende unter den Algen: Dort unten lebt sie fort, die Andere, die sich hergibt, die sich in Berlin von dem dunklen Ritter überwältigen ließ, die sich fürchtete vor der gewaltsamen Öffnung ihres Körpers und sich doch immer wieder in seine Nähe drängte, ihm die Türe öffnete, den Schlüssel übergab, sich überfallen und auf das ungemachte Bett werfen ließ von dem. Tom Tom. Du ahnst es vielleicht, beschweigst, beschwörst die Stille, den See, das beschauliche Leben und begreifst nicht, dass es von daher kommt: das Sehnen, das Aufbegehren, die Hitze. Denn still liegt da der See, so grün, so blau, so besonnt. Doch unter der Oberfläche rumort es.

Please be kind
Please be kind

Ich rannte die lange Schleife vorbei am Institut für Limnologie. Keine Menschenseele so früh unterwegs, nur ein paar aufgeschreckte Vögel erhoben sich über dem Wasser. Das Tempo drosseln, sagte ich mir, doch konnte ich mich nicht bremsen, ich musste dies sündige Sehnen, herauslaufen, keuchend am Ende des Laufes zusammensinken, um jenes andere Keuchen vergessen zu machen, an Tomasz Ohr, die Nägel tief in seinen Rücken gebohrt, die Erschöpfung, die keinen Frieden brachte, der Wille nach mehr, mehr, mehr...

Still lag der See und still das Kernkraftwerk, außer Betrieb seit 1990, im Rückbau seit 1995. Es soll  wieder grün werden hier, überwuchert die Flächen von märkischem Sand, Efeu und Birke, doch noch stehen die Hallen, die Sperrzäune. Hier findet der weltweit erste Versuch statt, ein Atomkraftwerk vollständig wieder vom Boden der Erde zu tilgen. In Wahrheit geht es nur um Verschiebung. In jenem Sommer, in dem wir an den See zogen, wurde der Reaktordruckbehälter von hier nach Lubmin verbracht. Es gibt keine „Endlager“, keine Sicherheit, keine Entsorgung, nichts verschwindet ohne Spuren. Die Ruhe ist trügerisch und der See weiß es. Und die im See. Und ich. Es bleibt die heiße Zelle, in der die strahlendem Substanzen reagieren. Auch die, so behauptet man, werde nun abgebaut, doch ahne ich: sie strahlt weiter. Der ruhiggestellte See wird anzeigen, wenn sie anderswo rumort. Wie ich. Wie ich anderswo unseren Frieden verrate. Wie ich dich betrüge anderswo, mit dem, der die Ruhe verachtet. Der See, schrieb der Alte, ist launisch. Doch so stimmt es nicht: Der See birgt die Wahrheit und die ist nicht schön und still und gut.

Ich rannte. Mir die Seele aus dem Leib. Wandte den Blick vom See, in dessen Antlitz sich immerzu das Gesicht des dunklen Ritters spiegelte, den ich doch laufend zu vergessen versuchte. Ich werde ein Unglück ertrotzen, der Rückbau ist missglückt.

Über dem Hausfirst ging die Sonne auf, als ich den See umrundet hatte. Die Beine fühlten sich schwer an. Der Atem ging stoßweise. Es schäumt und wogt und greift an, kreischt und kräht. Kein Hahn. In mir. Melusine. Trommle ich hinaus. Übermorgen. Dein Lied: TRAIN SPACE.

Ich schloss auf und schlich mich ins Bad, um zu duschen.

Lord above you filled the sea, watch it roll.
At your last port of call
You weren´t saved.