20100531

KOPFLOS (Love is a sign)

30. Oktober 2009, Sydney, 00.34 Uhr (Australian Central Standard Time ACST)

Standing on a sunken canoe
Looking up at the waterlilies
They´re green and violet blue
Still the sun finds a place to light me
Still the sun finds that it´s warm beside me


Er hatte sie im SpeakEasy aufgegabelt, wo sie an der Bar einen grünen Cocktail getrunken hatte. Das passte ihm gut: eine Gegen-Annie, die klebrige Cocktails schlürfte, Netzstrümpfe trug zu einem violetten Minirock und ein knappestmögliches Top. Die großen Brüste wurden vom sonnengelben T-Shirt-Stoff kaum bedeckt. Wenn sie sich vorbeugte, eröffnete sich ein Blick links oder rechts auf einen dunkelbraunen, großflächigen Brusthof. Sie wollte heute noch einen Mann, das zeigte jede ihrer Bewegungen, die Art, wie sie die  Beine übereinander schlug, um sie dann wieder auseinander zu flechten, ihr Zeigefinger, der mit sanften Druck über den Glasrand strich.  Die war genau, was er brauchte, nichts zierlich Verklemmtes an ihr: Das hier war eine Frau, die wusste, was sie wollte und die  wollte, was sie kriegen konnte. Gegen-Annie saß an der Bar, als hätte er sie sich für diese Nacht dort hin phantasiert.

An Karim allerdings, hatte er sich vorgenommen, an Karim würde er nicht denken, nicht an Karims Blut an der Landstraße in Brandenburg. MINDLESS. Dieses Blut hatte er sich tagsüber im Studio ergießen lassen zwischen die Bankentürme der City; in den Häuserschluchten hatte er die verdrehten Körper der Krawattenträger getürmt und deren Gehirne statt Karims auf die Pflaster gespritzt, indem er den Regler aufundab drehte und ein nervenzerrendes Kreischen erzeugte. Gut war es schließlich, wenn der porzellane Atem der weißen Elfe aus dem Wald der Wälder über die Leichenberge hauchte (volume down) und der dunkle König zurückkehrte auf seinen Thron, geschnitzt aus den Knochen der Geldjäger (volume up). Die rosabackenen Nymphen tanzten und gaben sich freudig den Waldmännern hin. Gedankenlos vollzog sich, was geschehen musste. Er saß auf dem namenlosen Hügel und sah die Welt brennen. (explosion) Gut. Er hatte den ersten Song aufgenommen seit... Nicht daran denken. Musik machen. Ficken. Annie. NICHT Annie. Fuck you, Annie.


The world is too big or too small
I won´t be the madman then
It will be me that´s come to call
Me in freezing weather
Snow cuffs on my wrist
You down the river
And London no longer exists

Sie war keine Goldgräberin. Sie wollte keinen Mann aufreißen, um sich über ihn, sein Geld oder seinen Status Glanz zu verleihen. Rosie schimmerte, weil sie glühend heiß lief und Hitze abstrahlte: purer Sex. Solche Frauen gab es auch. Er hatte sich neben sie an die Bar gelehnt, den Körper zunächst noch von ihr weg gedreht. Sie hatte ihn taxiert und Tomasz wusste genau, was er zu bieten hatte.

"Mein zerzauster David", hatte Annie gesagt. Zerzaust. Unaussprechliches Wort. "What does it mean?" "Tousled hair." Tomasz fuhr sich mit der rechten Hand durch das dunkelbraune, fast schwarze Haar. Er liebte es, seine dichten Haare zu zerwühlen oder sie zer - z a u s en zu lassen von willigen Frauenfingern. Ab und an schnitt er ein paar Strähnen, die ihm zu dicht an die Augen hingen mit der Nagelschere, kreuz und quer. Zauselkopf. Er wusste, dass dies Struppige ihm stand, darunter die markante Nase, die steile Falte über der Nasenwurzel, der schmale Mund, das eckige Kinn. Seine wuseligen Haare gaben dem betont Männlichen etwas Jungenhaftes, schufen Nahbarkeit und Vertrauen. Wo es unangebracht war. Das werdet ihr noch merken, Ladies. Das hast du gemerkt, Annie. Und genossen. Er hatte nur drei Knöpfe des zerknitterten Hemdes geschlossen, gab die Blicke frei auf seinen glatten Oberkörper, der selbstverständlich enthaart war. Das hatte Annie erstaunt. Ihn hatte ihr Staunen überrascht. Alle seine Freunde enthaarten sich. Aber für Annie war es wieder ein Grund mehr gewesen, auf den Altersunterschied hinzuweisen."Michelangelo´s David hasn´t got any hairs, too." "Ja. Er ist zu perfekt. Wie du." Er hatte gelacht. "Hell. Certain parts of him are a bit... small, what do you think, babe?" Und er hatte ihre Hand an seinen Schwanz geführt. 

Die Erinnerung erregte ihn. Aber er wollte sich auf die Gegen-Annie konzentrieren. Er hatte nicht genügend Geld dabei, um ihre Drinks zu bezahlen. Sie musste ihn so sehr wollen, dass es nicht darauf ankam. Er drehte sich zu ihr herum und öffnete dabei leicht die Beine. Wenn sie hinunter schaute (was sie aber sicher nicht sofort täte, etwas Lenkung brauchte sie schon), sähe sie sein Begehren. Schätzte er sie richtig ein, so würde sie nicht schamhaft erschrecken und es überspielen, sondern darauf eingehen, zunächst mit Worten und Blicken. Er betrachtete sie ohne Scheu von unten nach oben: gute Beine, vielleicht ein wenig zu stark um die Fesseln, viel Hintern, dafür eine recht schmale Taille, üppige Oberweite, alles Bondi-Beach-sonnengebräunt. Die hellbraunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, Strähnen fielen ihr als Pony in die hohe Stirn, darunter eine aufgeschwungene Kindernase, ein breiter, rot geschminkter Mund; die grauen Augen standen weit auseinander, sie hatte nur die Wimpern getuscht, weiter kein Makeup aufgelegt. Das hatte sie auch nicht nötig. Tomasz suchte ihren Blick und glitt mit seinem dann ostentativ wieder hinunter auf ihre Büste. Da erst nahm er das Muttermal wahr, das wie eine kleine, dunkle Holzperle direkt zwischen den Brüsten lag. Augenblicklich spürte er, dass sein Glied noch härter wurde. Love is a sign: ein Mal, wie es auch Annie zeichnete. Nur dass es bei Annie kleiner war und sich nicht flächig abhob, sondern hingetupft dalag, unerspürbar von seinem Zeigefinger, der es umrundet hatte. A thousand times.

Sie hatte seinen Blick inzwischen aufgenommen, war ihm gefolgt hinunter zu ihren Brüsten und geschweift in seinen Schoß. Sie hatte es gesehen, dessen war er sich sicher. Er griff nach ihrem rechten Handgelenk. Ihre Finger berührten den Stiel des Cocktailglases. Aber er ließ es sie nicht anheben, nicht jetzt. "You´re driving me crazy." Kein origineller Spruch war das, aber darauf kam es, davon war er überzeugt, bei ihr nicht an. Das drückte exakt aus, wie sie sich sah, wie sie auch tatsächlich wirkte: Eine Frau, die Männer verrückt machen wollte und es tat, weil sie zeigte: Ich will es, wie du es willst. Weil sie die demütigenden Spielchen überflüssig machte, zu denen Männer gewöhnlich gezwungen waren, um an eine Frau heranzukommen. Weil sie sich nicht schämte zu sein, was sie war: eine Frau mit Verlangen nach einem Mann. Das gab es nicht oft. Zu vielen Frau war anerzogen worden, den Jagdinstinkt des Mannes zu wecken durch Scheu, Verweigerung, Zurückweisung. Und zu viele Männer, auch das hätte Tomasz jederzeit zugegeben, mochten zwar bei Gelegenheit eine Frau wie sie benutzen, brachten ihr jedoch keine Achtung entgegen. "She´s a slut." Er dagegen würde sie dafür respektieren, dass sie es sein wollte und sich nichts vormachte und ihm nicht. 


I´m not a playboy or a poet
There´s no cool water from the well
I wish you had a big house
And that your work would start to sell
Wave after wave
Our tension and our tenderness

Sie legte ihre linke Hand auf seine, als wolle sie ihn abwehren. Aber zugleich lächelte sie ihn an und senkte erneut für Sekunden den Blick. Er hielt ihr  stand: "I want you." "You´re very self-confident, darling.", antwortete sie. "Yeah, luv. What´s your name?" Noch immer lag ihre linke Hand auf seiner rechten. Aber beide hatten sie den Griff gelockert. "Rosemary." "Rosie, baby. That´s beautiful. I´m Tomasz." "Thomas?" "No, I´ve got hungarian ancestors. Tomasz. But you can call me Tom." "Tom." "You´re hot, baby." "Uu.." Er fuhr mit dem rechten Zeigefinger ihren Arm hinauf. Sie hatte ihre Hand weggenommen. Sein Finger glitt unter den Spaghettiträger ihres Tops. Wie einfach das bei ihr war; er fühlte unter seinem Finger die wohlige Gänsehaut, die sich auf ihrem Arm ausbreitete. Sie konnte das zulassen. Was für eine Frau. Eine Frau. Er brauchte eine Frau so dringend, ein Gegenmittel gegen das Annie-Fieber, den Karim-Brand.

Wenig später zahlte Rosemary ihrer beider Drinks. Sie hatte ihm keine Kurzfassung ihres Lebens erzählt, auch keine lange. Wahrscheinlich gab es noch nicht allzu viel zu erzählen, denn sie war erst, immerhin das hatte er erfahren, zweiundzwanzig Jahre alt. Es war in der Tat, als habe er sie bestellt: die ideale Besetzung als Gegengift. Sie ließ sich ein auf den von ihm begonnen eindeutigen Flirt, der nur ein Ziel haben konnte, das beide nicht verbargen: den Fick. Und nun standen sie auf der Straße und es gab bloß noch die Frage: Zu mir oder zu dir? Tomasz hatte auch diese Frage längst entschieden. Er wollte mit Rosie in sein Appartment, so sicher fühlte er sich, sie durchschaut zu haben. Rosie suchte keine Beziehung, sie würde keinen Kaffee kochen und kein Frühstück erwarten am Morgen und nicht zwingend einen Anruf am nächsten Tag. Sie würde sich ein Taxi rufen und verschwinden, wenn ihre Lust gestillt war. Vielleicht würde es ein nächstes Mal geben, vielleicht nicht. Sein Zimmer mit Kochnische lag nur wenige Straßenzüge vom SpeakEasy entfernt. Sie konnten mühelos durch die leicht abgekühlte Sommernacht hinlaufen und er ersparte ihnen beiden die Bezahlung des Taxifahrers, die wiederum Rosie hätte übernehmen müssen, was vielleicht sogar ihr dem Sex mit ihm zu sehr den Beigeschmack eines Callboy-Abenteuers gegeben hätte. Ihr war sein Vorschlag offenbar recht. Auch hierin hatte er sich nicht in ihr getäuscht. Es war ihr angenehm zu wissen, dass sie verschwinden konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Auf dem Weg ging er zunächst neben ihr, ohne sie anzufassen. Sie versuchte auch gar nicht seine Hand zu ergreifen oder sich in seinen Arm zu schmiegen, sondern stakste auf ihren Highheels mit durchgedrücktem Rücken und schwingenden Hüften neben ihm her. Sie war mit diesem Schuhwerk fast so groß wie Tomasz. Dann - ganz plötzlich - drehte er sich zu ihr hin, presste sie gegen die Hauswand und stemmte sein Knie zwischen ihre Beine. Sein Mund suchte ihren Mund und glitt mit seiner Zunge hinein, die ihre kam ihm entgegen, umspielte sie. Sie bog ihren Unterleib nach vorne und ließ den Kopf zurück sinken, um seine Zunge in sich einzusaugen. Ihre Hände waren längst unter seinem Hemd. Die seinen suchten unter dem Top ihre vollen, doch festen Brüsten zu umfassen. Sie waren so groß, dass er sie gerade bedeckten konnten. Er drückte beide gleichzeitig fest und sie stöhnte, wie erwartet. Sie küsste ihn erneut gierig, dann glitt sie hinunter zu seiner Brust und tiefer. Sie war offenbar bereit, ihn auf offener Straße zu befriedigen. Schon war sie auf den Knien und fingerte an seinem Reißverschluss. Er schaute hinunter auf ihren Pferdeschwanz, der von einem Gummiband mit Plastiksonnenblume gehalten wurde.  "I gonna make you happy.", hörte er sie murmeln. In ihrem Nacken war einige Haare aus dem Band gerutscht und kräuselten sich, bildeten einen zarten Flaum auf der samtig braunen Haut. Sie wirkte so eifrig und beflissen, wie sie sich an seinem Hosenlatz abmühte und er wusste, er müsste ihr ihrem Eifer längst seine Gier entgegensetzen. Doch er fühlte mit einem Mal nur noch eine sanfte Zärtlichkeit für dies getriebene Wesen unter ihm. Seine Erektion schrumpfte zusammen, nicht ruckartig, sondern klang wie eine Welle aus und er fühlte nicht mal  Bedauern. Love is a sign. Er strich dem Mädchen übers Haar.  "Rosie, dear."

Sie schaute verwirrt nach oben. "Darling, you´re so sweet. But..." Sie richtete sich auf, krabbelte an seinem Körper nach oben. Man merkte jetzt, dass sie ein wenig zuviel getrunken hatte. Er hielt sie fest, nahm sie in den Arm, küsste sie sanft, glitt mit dem Mund besänftigend über ihr ganzes Gesicht. "Sweetie. Sweetie." Sie bot ihm an, mit zu ihm zu gehen, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Er lehnte ab. Er versuchte es sehr freundlich und liebenswürdig klingen zu lassen. Das kostete ihn keine Mühe, denn er fühlte tatsächlich ungeheuer viel Wärme und geschwisterliche Liebe für sie. Er wollte ihr das zeigen, wie herzlich gern er sie hatte, doch begriff sie es nur als weitere Kränkung. Dass er sie nicht mehr mitnehmen wollte hinauf in sein Zimmer, wie hätte sie das auch anders verstehen können? Mit dem Mobile rief er ihr ein Taxi und blieb fürsorglich neben ihr stehen, bis es eintraf. Sie hatte sich von ihm weg gedreht, stand hoch aufgerichtet und einsam am Straßenrand, sich mühsam eine stolze Haltung verleihend, aber im Grunde vollkommen aufgelöst. Er wünschte fast, sie hätte geweint, dann vielleicht hätte er sie trösten und doch noch ihre Verzeihung erlangen können. So aber blieben sie stumm, bis das Taxi kam. Er öffnete ihr die Tür und sagte: "You´re the sexiest woman I´ve met for years, Rosie." Sie schwieg. Aber als ihr Taxi losfuhr, ließ sie die Scheibe hinunter und brüllte hinaus: "Fuck you, Tom." Sie war nicht klug, nein, und auch nicht originell. Aber wie hätte ausgerechnet er ihr das vorwerfen sollen?

Oben in seinem Appartement blieb Tomasz, nachdem er aufgeschlossen hatte, in der Dunkelheit neben der Tür stehen. Er hatte das Oberlicht über der Kochzeile offen gelassen. Durch das Hupen und bienenartige Summen vereinzelter Autos, die in der Nacht kreuzten, meinte er das Rauschen des Meeres zu hören. Er ging hinüber und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das schräge Fenster  einen flüchtigen Blick auf den Ozean zu werfen. Dunkel wogte er in der Nacht, schimmernd das schlammige Düstergrün, die rauchblauen Wellen, die silbrigen Kämme, darüber grauschattiert der wattige Himmel. "I live on the beach now, Karim. As in your dreams. Miss you, my friend." Karim, der den Ozean geliebt hatte, war fern vom Meer gestorben. Darüber würde er nie singen können. Stattdessen hatte er den Hass vertont, mit dem er den Schmerz zudeckte,  um den blutenden Schädel des Freundes auf dem Waldboden zu vergessen. "MINDLESS. We were totally mindless. Searching for Annie. Lake Stechlin. Fuck you. Karim. Fuck me, Karim."


The letters that we´re writing
Baby, they just break our hearts
And when we get back together again
There´s just no time to start
No time to restore
It´s all on the ground
What you´ve been doing
Against what I´ve found
And this is what I find
No matter what you say
No matter what you do
I want to be the one
And
Love is a Sign

20100524

20100510

ANGEL (Everybody said that she´s good in bed)

1. November 2009, Indian Ocean,  10:22 Uhr (Indian Standard Time IST)

Engelsgleich federte sie durch die Gärten, achtlos über Zäune und Hecken; ach, sagten die Leute, die hat sich verloren. So wollte i c h werden. D u, Armgard, fürchtetest ihren Wahn. Ich jedoch sehnte das Untergehen in ihrem Wogen herbei. Durchs düsterglitschige Grün suchte ich ihre Umarmung. Heftig presste ich mich ihr auf und sie öffnete sich. Empfing mich innig und brachte mich heim. Da war es um mich geschehen. Wirr hingen ihr die Korkenzieherlocken ums feine Gesicht. Immer wieder griff ich trunken hinein.

"Tauchst du nur tief genug", sagte sie, "dann siehst du, wen du liebst und geliebt hast und immer lieben wirst, in alle Ewigkeit: in der Tiefe siehst du und leidest. Ohne Entrinnen. Du wirst dich vergeben, um das zu vergessen." Ich verstand sie nicht. Sie wusste es schon. Ich verweigerte mich. Du ließest dich ein. Ich begriff es endlich. Da warst du schon dort. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sind wir gebunden. Ich tauchte. Du schliefst. Wir geben nichts, mach es dir klar, Armgard. Ich verschenke mich, du dienst. Wir nehmen es nur auf. Du immerhin trägst es weiter. 

Die Lockige, die ich zuerst liebte und dann verließ, war weise. Sie ließ mich schauen auf dich. Die in der Tiefe zu sehen sind, fallen aus unserer Zeit. Dass wir sie verlieren, ist unser Glück. Gib dich auf, vergib dich. Die ich sah, die wir sahen, dürfen uns nie gehören. "Keiner gehört keinem.", vernünftelst du. Armgard, ich könnte töten aus Leidenschaft. Du nicht. Ich weiß. Du lässt sie gehen ohne mit den Lidern zu zucken. Keine Eifersucht lässt die Schamhafte den Blick senken, still stehst du und duldest, fast ohne Schmerz. Das glaubte ich dir nicht. Dann sah ich dein Lächeln.

Du hast die Söhne. Keine kann sie dir nehmen. Sie sind aus dir. Denen hast du dich verschrieben. Sie tragen dich in sich, wie du sie trugst in dir. Das werde ich nie erfahren. Es ist mein Nabel, an dem die blasse Narbe schimmert, die dich nicht mehr entstellen kann. Als du den nächsten Sohn bekamst, scherzte ich: "Wir können nichts anderes." Wir lachten. Doch weiß ich im Herzen, Schwester, dass es stimmt. Keine Tochter wird uns begleiten, die mich gerettet hätte.

So hielt ich mich fern. Glitt durch die Meere. Du indes wusstest nicht, was du tatest. Traumwandlerisch bewegtest du dich auf ihn zu. Stelltest dich so dicht an ihn hin, dass du aufschauen musstest. Du wolltest in die Knie sinken, daher bautest du ihm einen Sockel. Nicht recht wohl fühlte er sich dort oben. Doch gefiel es ihm herabzuschauen auf deinen blonden Scheitel. Du glaubtest, er wähle dich. Doch hattest du ihn erhoben, der Vater zu sein, mein blindes Schwesterherz. Das ging gut. Das tat weh. Ich fühlte von Weitem mit dir. Eine Nacht schnitt es mir in die Kehle. Ich ahnte, dass er vom Sockel stürzte. Ich ahnte auch: Du hieltest still. Um der Liebe willen, die nicht vergeht. An den Ufern der Seen zweier Kontinente saßest du: Lake Michigan, Wannsee, Stechlin. Die Söhne spielten zu deinen Füßen, während du dem Plätschern lauschtest. Du wartetest. Meine Kehle war wund. Ich brachte keinen Ton hervor. Verzeih mir, Schwester, verzeih.

Sie, die wir zuerst liebten, sang von Seraphim und Cherubin, deren weiße Gewänder im sanften Wind wehten. Ihre helle Stimme beschwor Harmonien. Keiner anderen hätten wir den Kitsch verziehen. Sie aber linderte vorwegnehmend all die Schmerzen, die wir einander noch zufügen würden, geliebte Feindin Schwester: Dein Mutterherz meiner Leidenschaft, meine Sehnsucht deinem Vertrauen. Ihren Kopf in meinem Schoß wußte ich um die Not, den heilsamen Wahn, unsere ungeborene Tochter. Und ich vergab uns.

Everybody said that she's good in bed
Other people said that she's well read.

20100508

HAUS AM SEE (Let it go by)

05. November 2009  Neuglobsow am Stechlinsee, 12.55 Uhr (Central European Time CET)

Wenn ich Carl ansehe, fühle ich nun häufiger einen messerscharfen Schmerz in der Brust: mein Sohn, mein wunderschöner Sohn, dieser Gigant, den eine Kleine, den ich, gebar. Die schlaksigen Bewegungen hat er von Bert. Immer ziehen sie die Schultern ein wenig ein, manchmal aber den Nacken zierlich aufdrehend wie Wildkatzen. Dieser Kontrast ist so anziehend: das Riesige und das Zarte, die sich in dem Jungen vereinen, wie sie es in Bert taten, als er 1984 im November in seinen klobigen Stiefeln so bedeutend und abweisend durch die Mensa stakste, all die Blicke ignorierend, die ihm folgten, auch meine natürlich, dachte ich damals. Jemand sagte: "Da kommt d e r Barnhelm." D e r Barnhelm. Nur ich, so schien es, hatte den Namen noch nie gehört.

Heute Morgen waren wir allein, Carl und ich, und schlechter Laune. Bert war schon früh zum Institut für Limnologie hinüber gegangen. Daniel hatte bei einem Freund in Gransee übernachtet. "Hast du dein Bett aufgeschlagen?" Er verdrehte die Augen. "Shut up, Mum." "So redest du nicht mit mir!" Schon war ein schriller Ton in der Stimme. Er stand noch im T-Shirt da. "Willst du nix Wärmeres anziehen?" "Gib Ruhe." "Nicht in dem Ton, mein Herr." "Wo is´n mein gelber Kapuzenpullover?" "Ich wasche jeden Tag eine Maschine, Freundchen." "Was soll ich ´n dann anziehen, Lady?" "Ich hab´ dir gesagt: Nicht in dem Ton, hörst Du." Er drängelte sich an mir vorbei zum Küchentisch. "Nutella." "Glaubst du, ich stell es dir vor die Nase?" Er steckte seinen Ipod in die Radiostation und drehte den Volumenregler hoch:

Und die Welt hinter mir wird langsam klein.
Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht!
Ich weiß: Sie wartet und ich hol sie ab!

„Was soll das? Ich hörte Deutschlandfunk.“ „Geh doch in die geriatrische Anstalt.“ „So nicht.“ Das war bereits ein Kreischen. Ich riss den Ipod aus der Station. Carl sprang auf. „Finger weg von meinem Ipod.“ „Was denn?“ Auf meiner Schulter saß das Kapuzineräffchen: Wie lächerlich, wie lächerlich. Jetzt gibt´s ´ne tolle Show. „Gib meinen Ipod her.“ Das eingebildete Äffchen lachte sich fast tot. Selbst dein Balg tanzt dir auf der Nase herum. Und Mr. Hell down under hat in jedem Arm ´ne andre. Ich warf den Ipod quer durch die Küche. Carl jaulte. „Du hast sie nicht mehr alle. Vollkommen bekloppt.“ Er bückte sich, um sein Gerät aufzusammeln. „Wenn der kaputt ist...“ Nicht ganz bei Trost. Ein Toast. Ein Toast. Das Äffchen tobte triumphierend. Hurra. Hurra. „Was dann? Schlägst du mich dann? “ Ich baute mich vor ihm auf, versuchte, ihm den Ipod aus der Hand zu schlagen. „Du spinnst total.“ „Wie redest du mit mir?“ „Wie du´s verdienst. Lass mich durch.“ Ich stellte mich zwischen ihn und die Tür. „Lass mich durch.“ „Nein. Entschuldige dich.“ „Wer hat denn hier Sachen geworfen, Madam? Entschuldige du dich.“ „Ich lass dich nicht durch.“

Wir stehen ganz dicht voreinander. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Wir schnauben wie aufgescheuchte Ratten. Beide. Er hat Berts Körperbau, aber meinen Jähzorn. Jetzt geht´s los. Das Äffchen hat seinen Spaß. „Lass mich durch.“ „Nein.“ Carl packt mich an beiden Schultern. Ich mache mich steif. „Nein.“ Seine rechte Faust ballt sich, er drückt zu, mit seinem ganzen Körpergewicht gegen meine Winzigkeit. Ich falle, knicke um und rutsche in die Ecke. Der Schock treibt mir die Tränen in die Augen. Carls Arm fällt herab. Ich bleibe aber nicht sprachlos: „Das war´s.“, kreische ich, „ Asozial.“ Es hat sich soviel angestaut. Jetzt heule ich das mal laut raus. „Du oder ich“, schreie ich. "Meinst du, das lasse ich mir gefallen?“ Ich stehe schon auf dem ersten Treppenabsatz, will hoch, ins Schlafzimmer, den Koffer vom Schrank reißen. Weg. Weg. Weg.

Carl hat noch kein Wort gesagt. Aber er ist mir zum Fuß der Treppe gefolgt. „Mama. Bitte. Es war ein Versehen.“ „Soll ich mich im eigenen Haus vor meinem eigenen Sohn fürchten?“ Im Schlafzimmer knalle ich die Tür hinter mir zu, schließe ab. Carl hämmert gegen die Tür. „Mach auf, Mum. Es tut mir leid.“ Ich lasse mich auf das Bett fallen, heule schon wieder ganz laut. Ich kann mich jetzt nicht beherrschen. Es ist alles zuviel. Diese Falle Neuglobsow, die doof-freundlichen Gespräche in der Kaufhalle, das geheuchelte Interesse für die Veranstaltungen im Stechlinseehaus („Wollen Sie nicht mal einen Vortrag halten, Frau Barnhelm? Sie geben doch Seminare an der Uni, oder?“), Mr. Hell und seine Verachtung. Am schlimmsten aber ist Berts Zufriedenheit. Nichts fehlt ihm hier. Er forscht, er liest, er geht spazieren. „Schön ist es in Neuglobsow am Stechlinsee. Ideal für die Kinder.“ In den Schlaf geweint habe ich mich in den ersten Wochen. „Aber sieh doch die herrliche Landschaft...“ Ich bin einsam, Bert. Die Lehraufträge, die Wohnung in der Weinertstraße; das waren Lichtblicke und zuletzt Tomasz...Aber durch ihn wurde am Ende alles noch viel schlimmer.

„Mum. Bitte. Ich muss zum Bus. Mach auf. Es tut mir leid.“ Carl rüttelte am Türknauf. Ich rührte mich nicht. „Mama. Ich muss gehen.“ Ich hörte, wie er die Treppe hinunter rumpelte. Ich sprang auf. „Wenn du jetzt einfach gehst, dann bin ich weg, wenn du zurückkommst.“ Carl schaute aus dem halbdunklen Treppenhaus hoch zu mir. Seine Augen glänzten feucht. „Mama.“ „Ich kann nicht mehr, Carl.“ Er rennt zu mir hoch, presst meinen Kopf an seine flache Brust, wir halten uns fest  und heulen jetzt beide, hemmungslos laut. Schließlich ziehe ich ihn vor den Spiegel im Flur. Unsere Augen sind rot, die Haut ist fleckig, die Nasen tropfen. Wirr hängen unsere Haare in die Gesichter. Carl legt seine Hand in meinen Nacken. „So kannst du dich nicht blicken lassen in der Kaufhalle.“ Er grinst mich im Spiegel an. „Du dich aber auch nicht in der Schule.“ Wir schauen uns quer über Bande an: 
Braunauge an Grünauge, Grünauge an Braunauge. 
(Hey, die Blauaugen sind ausgeflogen, hihi) 
„Wollen wir blau machen?“, frage ich.
Mütter sollten das nicht tun. Ach was. Jetzt nehmen wir uns das einfach. Wir gehen ins Schlafzimmer zurück. Carl lässt sich auf die linke Seite des Bettes fallen, Berts Seite, streckt den Arm aus, damit ich mich in seine Armbeuge legen kann. Wie sich alles verkehrt hat: In meiner Armbeuge hat das Kind gelegen, um Trost zu finden, wenn er sich angeschlagen hatte, wenn er gehänselt wurde, wenn ihm was schief gegangen war. Wollte ich ihn jetzt so in die Arme nehmen, dann wirkte es grotesk. Die Zwergin will den Riesen halten. „Scheiße, Mummy.“, sagt er und deutet auf den Koffer, den ich vom Schrank gerissen habe. „Willst du wirklich fort?“ Er fragt es nicht in einem Ton, der nur ein „Nein“ erlaubt. Er will eine Antwort. Zwischen Carl und mir geht das, was zwischen Bert und mir schon lange nicht mehr möglich ist. Bert bricht sowas ab, versperrt sich hinter Zärtlichkeit, im schlimmsten Fall geht er schlafen. Aber ich muss aufpassen, darf den Jungen nicht missbrauchen, darf ihm nur erzählen, was er wissen will.
„Ja, manchmal will ich fort.“ „Wohin?“ „Weiß nicht.“ „Ich versteh dich. Als ich im Sommer aus Chicago zurück gekommen bin, hatte ich auch das Gefühl hier zu ersticken.“ „Genau. Nichts scheint sich zu bewegen.“ „Außer dir.“, Carl lacht. Das ist ein Running Gag zwischen den Jungen: meine körperliche Unruhe, dieser Bewegungsdrang. „Rund um den See, jeden Tag. Die Yoga-Übungen. Das Rudern.“ „Tut mir gut.“
„Wenn ich das Abi in der Tasche habe nächstes Jahr, gehe ich wieder nach Chicago.“ Ich streiche ihm durchs Haar. „You´re hometown.“ „Dort bin ich geboren." „Wie geht´s Bo?“ Carl verzieht das Gesicht. „Sie schreibt, dass sie mit  einem Typen zum Konzert von Death cab for cuties geht.“ „Was für ein Typ?“ „Danny. Ich kenn den auch, er ist o.k. Trotzdem.“ „Davon musst du runter. Sonst geht das nicht mit so einer Fernbeziehung.“ „Klar.“ „Gefühle kannst du eh nicht kontrollieren.“ „Eben.“ „Deine auch nicht.“ „Ich liebe sie.“ Es ist schwer, als Mutter etwas dazu zu sagen. Ich nehme das ernst. Er fühlt das so. Aber – wie dauerhaft ist die Liebe eines 17jährigen? Er verteidigt sich schon, bevor ich etwas sage. „Du warst auch nur zwei Jahre älter, als du Papa kennengelernt hast.“ Das stimmt.
„Es wird schwer für dich, Mama, wenn ich nach Chicago gehe.“ Carl wusste das genau. Die Last, die ich ihm auflegte, ohne es zu wollen, ohne es verhindern zu können. „Ich will, dass du gehst. Wenn es das ist, was du willst. Weißt du doch.“ „Du schicktest mich sogar. Und es war die beste Entscheidung. Das war ein tolles Jahr.“ „Du wärest gerne dort geblieben.“ „Ja. Und Nein. Ich liebe dich, Mama.“ Ich drückte meinen Kopf in seine Armbeuge. „Das weiß ich. Ich liebe dich auch, Carl.“ Ich flüsterte es in seine Achselhöhle, man konnte es kaum hören. Chicago, windy city blues, mit meinem Baby im Arm unter dem Loop... „Erinnerst du dich noch an etwas aus der Zeit bevor wir nach Deutschland gingen, Carl?“ „Den Loop. Das Geräusch der Bahnen. Da bin ich zuhaus. “ Ich schließe die Augen. Mein Junge. Das Rattern der Züge. Der Mann, den ich nie treffen werde. Kein Mister Hell. Kein Bär. Doch für eine andere kann er es sein, die Hölle, die Resignation. Das kann ich nicht wissen.

Ein Frauenchor am Straßenrand, der für mich singt!
Ich lehne mich zurück und guck ins tiefe Blau,
schließ die Augen und lauf einfach geradeaus.
Und am Ende der Straße steht ein Haus am See.
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.
Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.

Carl rückte von mir ab, um mir in die Augen zu schauen. „Du weißt, dass es für Papa o.k. wäre, wenn du wieder in einer Band spielst.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe dich auf MySpace gehört mit der Band von dem Australier mit dem ungarischen Namen.“ „Wie bist du auf die ´Poor Heirs´ gestoßen?“ „Er hat mir von der Band erzählt. Als wir ihn im Herbst vor den Hackeschen Höfen getroffen haben. Nachdem du rein gegangen bist, um die Bären-T-Shirts für meine Cousins zu kaufen. Da hat er sie erwähnt.“ Tomasz hatte das absichtlich getan, diese Spur gelegt. „Und du hast mich erkannt?“ „Deine Stimme, klar. Spielst Du auch das Schlagzeug?“ „Ja.“ „Mann, Mama, das ist gar nicht schlecht.“ Ich stupste ihn in die Schulter. „Ich bin kein Mann. Und froh drüber.“ „Warum machst du so ein Geheimnis draus? Für Papa wäre das kein Problem.“
Bert würde nichts dazu sagen. Sein Schweigen verletzt mehr als es jeder lautstarke Streit könnte. Ich kann nicht einschätzen, ob es Selbstschutz ist oder Gleichgültigkeit. In Ordnung ist, dass seine Frau in Berlin ein paar Seminare gibt. In Ordnung ist, dass sie dort eine kleine Wohnung hat, für den Fall, dass es einmal früh anfängt oder spät endet. In Ordnung ist, dass sie Freunde hat, die er nicht kennt und nicht kennen will. Das ist alles in Ordnung. Es bleibt alles in der Ordnung, solange ich nicht darüber rede. Solange ich keine Unruhe stifte, solange ich nicht hoffe, dass er Anteil nimmt an dem Leben, das mich ausmacht, sondern mich immer wieder einfüge in sein Leben. Er glaubt, wenn er Ruhe gibt, komme ich immer zurück. 
„Was hat er noch erzählt, der Australier?“ War mein Tonfall falsch? Carl drehte mir den Rücken zu, während er aufstand: „Eigentlich nichts. Dass er dieses Stipendium hatte. Und dass er zurück gehen wollte nach Sydney.“
Carl ging ins Bad. Ich hörte das Wasser laufen. Er wusch sich. Dann rief er: „Willst du da hin? Nach Sydney?“ Ich antwortete nicht. Das Wasser lief weiter. Es wurde abgestellt. Carl stand in der Tür mit nassem Haar. Er wartete auf eine Antwort. Er hatte eine verdient. „Es ist eine tolle Stadt: ´Darlinghurst nights´ von den GoBetweens. ´I opened a notebook. It read the Darlinghurst years...“ Er fiel in den Refrain ein: "Gut rot cappucino, gut rot spaghetti, gut rot rock´n´roll through the eyes of Frank Brunetti. And always the traffic, always the lights. Joe played the cello through those Darlinghurst Nights." Dann stand ich auch auf.
Als ich mich in der Tür an ihm vorbei drücken wollte, griff er mir mit beiden Händen um die Taille, hob mich hoch, ließ mich oben zappeln. „Wie leicht das geht.“ „Lass mich runter.“ „Und wenn nicht?“ Wir lachten. Wir waren wieder im Alltag. Das ist ein Spiel, das wir oft spielen. Er setzte mich ab.„Vergiss nicht, mir eine Entschuldigung zu schreiben für heute.“ „Klar.“
– - - - Den Blauaugen erzählten wir nichts. Das brauchten wir uns nicht zu sagen.
Das Kapuzineräffchen feixte. Du bist vielleicht ´ne Mutter. Mütter tun das nicht. Was denn, verdammter Affe? Was denn: ich liebe den Jungen. Weißt du schon.

Anybody else, anybody else,
but I let it go by